Schuld der Küstenwache

Griechenland muss Geflüchtete für Bootsunglück entschädigen. Überlebende fordern weitere Konsequenzen

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 5 Min.

Acht Jahre mussten die Überlebenden des Bootsunglücks von Farmakonisi warten. In der vergangenen Woche hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nun geurteilt: Griechenland muss den Hinterbliebenen eine Entschädigung über 300 000 Euro zahlen. Die Richter*innen sehen das Recht auf Leben der Betroffenen verletzt und kritisierten eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung durch die Behörden. Ehsanullah S. ist aus Afghanistan geflohen und hat bei dem Unfall seine Frau und Kinder verloren: »Was ich verloren habe, werde ich nicht zurückbekommen. Sie zogen uns die Kleider aus. Wir waren nackt und nass. Sind das unsere Menschenrechte? Dann brachten sie uns auf die Polizeiwache, nahmen unsere Aussagen auf und forderten uns auf, zu unterschreiben, obwohl wir nichts verstanden hatten«, sagt er. Diese Menschen hatten gerade ihre Familie sterben sehen. Gemeinsam mit weiteren Überlebenden und verschiedenen NGOs, darunter Refugee Support Aegean und die deutsche Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, hatte er 2015 vor dem Menschenrechtshof geklagt, nachdem das Verfahren in Griechenland eingestellt worden war. Am Montag fand eine Pressekonferenz über die Bedeutung des Urteils statt.

Acht geflüchtete Kinder und drei Frauen – die Mütter der Kinder – sind 2014 bei dem Schiffsunglück vor der kleinen griechischen Insel gestorben. Die Überlebenden sehen die Verantwortung dafür bei der griechischen Küstenwache. Die hatte damals versucht, das Fischerboot mit 27 Geflüchteten an Bord mit einem Schnellboot abzuschleppen. Die Überlebenden sind sich sicher, dass sie rechtswidrig in türkische Gewässer zurückgedrängt werden sollten: Ein Pushback. Die griechischen Behörden streiten das ab, sie hätten das Boot nach Farmakonisi in Sicherheit bringen wollen und sehen die Ursache für das Kentern bei »Panik an Bord«. Laut dem Gerichtshof lässt sich aufgrund lückenhafter griechischer Ermittlungen nicht mehr feststellen, ob die Ursache für das Kentern ein Pushback war. Das Gericht machte aber unzweifelhafte Versäumnisse der Küstenwache geltend. So fehlten auf dem Schnellboot nötige Rettungsausrüstung und Schwimmwesten; es wurde keine Verstärkung angefordert. Auch warum Hilfsmaßnahmen erst mit beträchtlicher Verspätung nach dem Sinken des Schiffs begannen, konnten die Behörden laut Gericht nicht erklären.

»Wir respektieren das Urteil und waren froh, davon zu hören. Aber wenn die Grenzbeamten bestraft würden, wären wir noch glücklicher. Zum Glück wissen jetzt alle, dass es nicht unsere Schuld war, sondern ihre«, sagt Abdulsabor A., ein weiterer Überlebender des Bootsunglücks. Die Nachnamen der beiden Geflüchteten werden zu ihrem Schutz abgekürzt. Auch A. kommt aus Afghanistan und hat Frau und Kind verloren. Die Klärung der Schuld hat eine besondere Bedeutung, da zunächst ein weiterer Überlebender für das Unglück verurteilt worden war. Er verbrachte drei Jahre im Gefängnis und wurde in zweiter Instanz freigesprochen. Ob der Wunsch nach Bestrafung der Grenzschutzbeamten erfüllt wird, ist angesichts der Ausgangslage und fehlender Beweismittel jedoch fraglich. Allerdings muss der Fall nun entsprechend der geltenden Rechtslage wieder aufgerollt werden, sagt eine beteiligte Anwältin: »Da der Gerichtshof Mängel im Verfahren festgestellt hat, muss eine strafrechtliche Überprüfung erfolgen.« Die NGOs sehen in diesen Mängeln einen Beleg für eine Krise der Rechtsstaatlichkeit in Griechenland. »Griechenland hat ein massives Rechtsstaatsproblem. Die Regierung schafft ein Klima der Einschüchterung, das sich gegen Anwälte und zivilgesellschaftliche Organisationen richtet. Seit März 2020 erleben wir eine noch nie dagewesene Eskalation der Brutalität. Hier stehen die Fundamente der EU zur Disposition«, sagt Karl Kopp, Leiter der Europaabteilung von Pro Asyl, zu »nd.derTag«.

Die NGOs sehen deshalb die Europäische Kommission und die Mitgliedsländer in der Pflicht: »Die Europäische Kommission muss zu den ernsthaften Beschwerden über die systematische Zurückweisung durch die griechischen Behörden, aber auch durch andere EU-Länder Stellung nehmen und Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Außerdem muss sie die geplanten rechtliche Ausnahmen zurücknehmen, die der Zurückweisung und Misshandlung Tür und Tor öffnen und die Rechtsstaatlichkeit und die Rechte der Flüchtlinge untergraben«, sagt die Anwältin Eleni Spathana von der Group of Lawyers for the Rights of Refugees and Migrants (Gruppe von Anwälten für die Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen). Dazu gehören die Pläne für ausgelagerte Grenzverfahren unter haftähnlichen Bedingungen an den EU-Außengrenzen. Auch Cornelia Ernst von der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament fühlt sich in ihren Forderungen nach Vertragsverletzungsverfahren bestätigt: »Auch heute noch führen griechische Behörden nahezu täglich illegale Pushbacks durch. Es muss Schluss sein mit dem Bruch von EU- und Menschenrechten«, sagt sie zu »nd.DerTag«.

Ob das Urteilaber einen grundsätzlichen Einfluss auf die Pushback-Praktiken Griechenlands haben wird, bleibt offen. Eine Sprecherin der Europäischen Kommission kommentierte das Urteil gegenüber dieser Zeitung: »Wir haben das Urteil des EGMR gesehen. Es ist nun an Griechenland, das Urteil des Gerichtshofs umzusetzen.« Man werde außerdem eng mit den griechischen Behörden zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass das Land seinen Grundrechtsmechanismus stärke. Auch ähnliche Urteile des Europäischen Menschengerichtshofs etwa im Fall Kroatien oder Polens konnten Pushbacks zwar individuell – nicht aber strukturell verhindern beziehungsweise verurteilen. Kopp ist dennoch optimistisch: »Das ist ein wichtiges Urteil, das zeigt, dass es sich lohnt, zu kämpfen.« Ein großes Problem sei jedoch, dass Griechenland das Gefühl habe, man handele im Sinne Europas. Anfang des Jahres hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bestätigt, dass die Bundesregierung Griechenland weiterhin finanziell bei der Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten unterstützen wolle. Die Nachfrage des »nd«, ob man diese Unterstützung angesichts des Urteils infrage stelle, beantwortete das Ministerium bis Redaktionsschluss nicht.

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