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Singen im Sangriarausch
Typisch Sommer (11): Ein Sommer macht noch keinen Hit
Insgeheim ahnt der Deutsche, dass es ihm an Lebensfreude mangelt. Das war schon im Zweiten Weltkrieg so. Während er im Osten Europas wütete und sich von seiner bestialischen Seite zeigte, ließ er es sich im Westen, im besetzten Frankreich, nach Gutsherrenart gut gehen und versuchte sich am Savoir-vivre. Davon zeugten bundesdeutsche Nachkriegsschlager wie »Ganz Paris träumt von der Liebe« und »Pigalle (Die große Mausefalle)«, bei denen mancher Wehrmachtssoldat an seine Erlebnisse mit französischen Prostituierten erinnert wurde.
Mit dem Massentourismus entdeckten die Westdeutschen dann Südeuropa und machten dabei die Erfahrung, dass es Alternativen zu Sauerkraut und Marschmusik gab. Mit Urlaubsende nahmen sie nicht nur neue kulinarische Vorlieben (Spaghetti, Pizza, Ravioli) mit in ihre Heimat, sondern auch das ein oder andere Lied. Dabei handelte es sich aber nicht um authentische landestypische Klänge, sondern um jene Art von Gassenhauern, die man auch im Lambrusco- oder Sangriarausch noch mitgrölen kann.
Gleich der erste Sommerhit, »Borriquito« aus dem Jahr 1971, ist dafür ein Paradebeispiel. Der Texter und Sänger Peret lässt das Publikum die Vokale des Alphabets, A, E, I, O und U, wiederholen – das kriegt man selbst im Vollsuff noch hin. Dabei handelt es sich eigentlich um ein tourismuskritisches Lied. Der Sänger bezeichnet sich und seine Zuhörer als »Eselchen« (»Borriquito) und begründet auch, warum: «Mit nur sechs Texten mache ich 1000 Lieder, und alle applaudieren begeistert meinen Einfällen. Ich singe für die Mädchen, singe für den Kneipenwirt, singe für den Pförtner, singe für alle, singe für die ganze Welt. Und mit diesem Akzent klinge ich wie ein Ausländer, dabei komme ich aus Vigo. Ich nenne mich Peret, und mein Name ist Pedro.» Doch vor lauter «A, E, I, O, U» und «Tururú» bekam keiner mit (wie Peret 1979 in einem Interview bedauerte), dass «Borriquito» eigentlich ein Protestsong ist.
Spätere Sommerhits machten sich diese Mühe nicht mehr. In «Una Paloma Blanca» (George Baker Selection, 1975) und «Club Tropicana» (Wham!, 1983) mag man mit viel Wohlwollen noch Ansätze von Gesellschaftskritik entdecken. Doch die meisten Lieder beschränkten sich auf Aufforderungen wie «Lasst uns zum Strand gehen» («Vamos a la playa», Righeira, 1983) oder Versprechen der Art: «Der Rhythmus der Nacht, er wird dich erwischen. Du wirst dazu tanzen, bis du umfällst» («Ritmo de la noche», diverse Interpreten, 1990). Und Sex sells sowieso: «Mädchen, ich will dich zum Schwitzen bringen. Schwitzen, bis du nicht mehr schwitzen kannst. Und wenn du schreist, werde ich’s noch weiter treiben» («Sweat», Inner Circle, 1992).
Zudem entdeckte die Branche – wie es im Betriebswirtschaftsdeutsch heißt – die Synergieeffekte. Vom Erfolg der Sommerhits «Lambada» (Kaoma, 1989), «Samba de Janeiro» (Bellini, 1997) und «Mambo No. 5» (Lou Bega, 1999) profitierten auch die Tanzschulen. Ja, man kreierte wie für «Macarena» (Los del Río, 1996) und den «Ketchup Song» (Las Ketchup, 2002) sogar eigene Tänze, deren Choreografien kollektiv eingeübt und zelebriert wurden. Das ist natürlich alles ziemlich gaga. Oder auch «Waka Waka» – das WM-Lied von Shakira, das einen 2010 traumatisierte. Und auch für diesen Sommerhit gilt: Man tut sich einen Gefallen damit, nicht auf den Text zu achten.
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