- Kultur
- Rashid Hamid
Oma Lotti: Menschlichkeit wird likeable
Pfleger Rashid Hamid begleitete seine Patientin »Oma Lotti« bis in den Tod und machte daraus Insta-Storys
Oma Lotti ist tot. Sie wurde 93 Jahre alt, und dass viele Menschen von ihrem Tod wissen, liegt an ihrem Pfleger: Rashid Hamid. Mit ihm wurde sie zum Star auf Instagram und Tiktok, selbst in überregionalen Zeitungen erschienen Nachrufe auf sie, weil Rashid Hamid ihre gemeinsame Zeit immer wieder auf diesen Plattformen geteilt hatte.
Das Geheimnis dieser Videos und auch ihres Erfolges ist mehrschichtig: Einerseits war Oma Lotti durch ihre hanseatisch-direkte Art, aber auch durch ihre Fähigkeit, sich bis ins höchste Alter das Lachen bewahrt zu haben, die ideale Projektionsfläche für die Art, wie alte Menschen sein sollten: Sie hatte Charme, Charisma und wenig Scham. Und sie gehörte einer Personengruppe an, die man in der aktuellen Gesellschaft außerhalb der Familie selten trifft: Leute über 90. Diesen Exotismus hat sie zwar nicht bespielt, aber bedient.
Andererseits liegt es auch an Rashid Hamid, dass Oma Lottis Schicksal derart viel Interesse hervorrief: Sein Arbeitsethos ist eines, das ideale Pflege als Verlängerung der Zwischenmenschlichkeit begreift. Das heißt füreinander da sein, oder vielmehr: miteinander zu sein. Ihm geht es auch nicht um Work-Life-Balance: Pflege ist halt life. Es ist Hamid in jedem Moment anzumerken, dass er Oma Lotti mehr als Freundin begreift denn als Kundin oder Patientin. Das macht das ganze so wholesome.
Weniger wholesome ist die Notwendigkeit, diesen gemeinsamen Weg dokumentieren zu müssen: Der Grund, warum Rashid Hamid sich gezwungen sah, seine Herangehensweise an die Pflege zu dokumentieren, war nämlich, dass der von ihm gegründete Pflegedienst Schwierigkeiten hatte, sich am Markt zu etablieren. Das ist die erste Lektion: Menschlichkeit muss, wenn man nicht pleitegehen will, auch gesehen werden. Da aber die Gesellschaft nicht aktiv hinschaut, wo ihr Menschlichkeit abgenommen wird, muss man sie ausstellen. Das hat Rashid Hamid getan.
Das zu tun, war sehr riskant: nicht nur, weil mögliche Fehler und Unachtsamkeiten einem breiten Publikum sofort auffallen werden, auch weil die Pflege in dieser Gesellschaft stumm zu sein hat: Zu Beginn der Pandemie haben mehrere Menschen aus der Pflege auf Missstände hingewiesen und sind daraufhin – trotz des eklatanten Fachkräftemangels – abgemahnt oder sogar entlassen worden. Es wäre unfair, Rashid Hamid vorzuwerfen, er sei unpolitisch. Aber dass er nicht politisch ist, hat seinen Erfolg durchaus begünstigt. Das ist die zweite Lektion.
Rashid Hamid gut zu finden und Oma Lotti auch, ist die Ersatzhandlung, die es braucht, um sich aus der Affäre zu ziehen.
Das festzustellen, bedeutet nicht in Abrede zu stellen, dass es gut ist, dass und wie Rashid Hamid Pflege abbildet und damit aufwertet; ideale Pflege sollte so sein. Für ihn ist es selbstverständlich, Oma Lotti abends noch aus ihrer Wohnung abzuholen, um mit ihr essen zu gehen. So macht man das mit Freund*innen. Er trennt nicht zwischen Privatleben und Beruf; Feierabend gibt es nicht. Das ist Teil des Einvernehmens im Neoliberalismus: Bedingungslose Zwischenmenschlichkeit hat News-Wert, ist darstellbar.
Dass diese Symbiose gut funktionierte, war aber sehr voraussetzungsreich: Gleichzeitig hatte Oma Lotti nämlich auch eine gewisse Tiktok-ability; sie war, böse gesagt, noch verwertbar. Sie war in ihrer trockenen Art charmant auf eine Weise, die sie vorzeigbar machte. Auf eine Art war sie eigentlich pflegeleicht. Wenn jedes Alter so aussieht, wird man gern alt.
Allerdings sieht Alter nur in sehr wenigen Fällen so aus wie bei Oma Lotti. Auch dass es noch hunderte Oma Lottis geben wird, also dass Menschen Anteil nehmen an ihnen fremden Alten, die in ihrem Stream auftauchen, ist ausgeschlossen: So viel Platz ist nicht im Himmel der Tiktok-Stars. Die banale Realität ist, dass immer mehr Alte in ihrer Wohnung verdursten, weil sie gefallen sind, nicht mehr aufstehen können und es keine Kapazitäten gibt, nach ihnen zu sehen. Diese Tatsache ist nicht Rashid Hamid anzukreiden, erklärt aber seinen Erfolg. Der Erfolg ist die Rührung, die er in Leuten hervorruft, denen Care-Arbeit zu anstrengend ist. Rashid Hamid gut zu finden und Oma Lotti auch, ist dann die Ersatzhandlung, die es braucht, um sich aus der Affäre zu ziehen.
Notwendig wäre ein grundlegender Umbau der Gesellschaft dahingehend, dass jedes Leben – ob verwertbar oder nicht – schützens- und liebenswert ist. Diese Haltung aber taugt nicht zum Aufmerksamkeitsschlager. Nach ihrem Tod wurde bekannt, dass Oma Lotti verfügt hatte, kein Grab haben, sondern anonym bestattet werden zu wollen: als wäre nichts gewesen. Das ist möglicherweise der passendste Kommentar auf ihren Ruhm, um den sich jetzt andere kümmern müssen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.