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- »Good Luck to You, Leo Grande«
Eine Frau sucht nach gutem Sex
Bei aller Satire und Leichtigkeit: Der Film »Good Luck to You, Leo Grande« handelt vom Recht auf weibliche Lust – und zwar in jedem Alter
Nancy sitzt in einem Hotelzimmer und wartet. Auf guten Sex, vielleicht sogar darauf, zum ersten Mal in ihrem Leben zum Höhepunkt zu kommen. Die einzigen Orgasmen, die sie kennt, sind jene, die sie selbst vorgetäuscht hat. Und der einzige Mann, mit dem sie überhaupt geschlafen hat, war ihr inzwischen verstorbener Ehemann. Die 55-jährige, mittlerweile pensionierte Religionslehrerin ist seit zwei Jahren verwitwet. Genuss und Vergnügen sind Begriffe, die sie aus ihrem ehelichen Geschlechtsverkehr nicht kennt – dieser orientierte sich bloß an den Bedürfnissen des Mannes. Niemand hat sie je gefragt, ob sie überhaupt Spaß hat beim Sex. Nicht einmal sie selbst.
Nun will Nancy vieles nachholen. In diesem Londoner Hotelzimmer, wo sie auf Leo Grande wartet, einen jungen Sexarbeiter, der nicht nur traumhaft charmant ist, sondern auch gut in dem, was er tut. Doch es gibt ein Problem: Diese Frau, geprägt von Prüderie, tut sich absolut schwer, intim zu werden.
»Good Luck to You, Leo Grande« (deutscher Titel: »Meine Stunden mit Leo«) der australischen Regisseurin Sophie Hyde erzählt von dem, was viele verschweigen: die Abwesenheit vom Vergnügen im Leben vieler älterer Frauen. Der Film feierte 2022 beim Sundance Festival Premiere und wurde danach in der Sektion »Special Gala« der Berlinale gezeigt. Abgesehen von zwei, drei Szenen geschieht alles in diesem einen Hotelzimmer. Die ganze Handlung tragen zwei Schauspieler*innen – und zwar hervorragend. Emma Thompson, die die Nancy nicht authentischer und humorvoller spielen konnte: Eine Frau, die alles an sich in Zweifel zieht – ihren Körper, ihr Aussehen, ihr Alter. Dass sie überhaupt ihrer sexuellen Lust nachzugeben versucht, findet sie genauso problematisch wie die Freude des jungen Mannes an seinem Beruf. Und Daryl McCormack, der Leo Grande so darstellt, dass er das absolute Gegenbild zur toxischen Männlichkeit ist.
Der Film lebt außerdem von hochkomischen Dialogen zwischen den beiden Hauptcharakteren. Das Buch hat die britische Komikerin und Autorin Katy Brand geschrieben. Wer seit der Pandemie vielleicht vergessen hat, wie es ist, wenn der ganze Kinosaal lacht, ist in diesem Film richtig. Satire ist hier das beste Mittel, um das Recht auf weibliche Lust und Body Positivity zu thematisieren.
Klingt es absurd, wenn eine 55-jährige Frau mal guten Sex haben will? Oder wenn man ältere Frauen fragt, ob sie Spaß haben beim Sex oder überhaupt Sex haben? Haben sie ab einem gewissen Alter ohnehin keine sexuellen Bedürfnisse mehr? Wer behauptet das? Diejenigen etwa, die auch das Märchen vom Jungfernhäutchen in die Welt gesetzt haben?
Bevor man nun aufbraust, gebe es nicht »wichtigere« Probleme auf der Welt als den Spaß von Frauen, sollte man mal betrachten, womit Staatsapparate in der halben Welt noch heute beschäftigt sind, nämlich genaue Regelungen festzulegen, was weibliche Körper dürfen und was nicht, was beispielsweise auf der Agenda des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten im Jahr 2022 stand: das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. Dann wird einem klar, dass der Frauenkörper und dessen Funktion nicht nur politisch brisant sind, sondern auch scheinbar für viele von großem Interesse, da sie ununterbrochen über diese bestimmen wollen. Doch geht es um die Lust desselben Körpers, will auf einmal keiner davon wissen; schlimmer noch: wird dies für das Unwichtigste überhaupt gehalten, sodass die Frauen sich sogar schämen, überhaupt darüber zu sprechen.
In einer Szene des Films steht Nancy nackt vor einem Spiegel und versucht – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben –, sich selbst zu betrachten, ohne sich dabei für irgendetwas an ihrem Aussehen oder Alter schämen zu müssen. »Wir sind nicht daran gewöhnt, unretouchierte, untrainierte Körper auf der Leinwand zu sehen«, sagte Emma Thompson auf der Pressekonferenz der Berlinale und wies auf jene Szene hin. Sie selbst könne nicht einfach so vor einem Spiegel stehen; sobald sie das tue, ziehe sie den Bauch ein oder drehe sich seitwärts. Denn: »Frauen wurden ihr ganzes Leben lang einer Gehirnwäsche unterzogen, ihren Körper zu hassen. Alles um uns herum erinnert uns daran, wie unperfekt wir sind und was alles mit uns nicht stimmt und dass wir so und so aussehen sollen«, so Thompson. Sie forderte das Publikum auf, das mal selber zu probieren: »Ziehen Sie sich mal aus und stellen Sie sich still vor einen Spiegel, bewegen Sie sich nicht, akzeptieren Sie sich, wie Sie da so stehen und aussehen, ohne Werturteil!« Das sei die schwerste Sache, die sie als Schauspielerin je machen musste.
»Good Luck to You, Leo Grande« ist also ein Film, der herausfordert, sogar seine Schauspieler*innen. Und das bei aller Leichtigkeit und Satire.
»Good Luck to You, Leo Grande« (»Meine Stunden mit Leo«): UK 2022. Regie: Sophie Hyde, Drehbuch: Katy Brand. Mit: Emma Thompson, Daryl McCormack; 97 Min., Start: 14. Juli.
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