Das Geräusch des Wassers bleibt im Kopf

Die Folgen der Flut-Katastrophe im Westen Deutschlands sind noch lange nicht bewältigt

Auf dem ehemaligen Campingplatz in Ahrweiler bietet jetzt der Verein Ahrche Unterstützung an. Lucas Bornschlegl (unten) baute die umfassenden Hilfsangebote mit auf.
Auf dem ehemaligen Campingplatz in Ahrweiler bietet jetzt der Verein Ahrche Unterstützung an. Lucas Bornschlegl (unten) baute die umfassenden Hilfsangebote mit auf.

Der Marktplatz von Ahrweiler Anfang Juli. Von der Flut vor einem Jahr ist auf den ersten Blick nichts mehr zu sehen. Vor mehreren Restaurants und Weinlokalen sind Tische, Stühle und Sonnenschirme aufgebaut. Die Blumenbeete an der Sankt Laurentiuskirche blühen in voller Pracht. Vor der Metzgerei Ropertz in der Oberhutstraße hat sich eine Schlange gebildet. Eine Kundin, die mit ihren Kindern vor dem Laden wartet, freut sich, dass die Metzgerei seit Juni wieder geöffnet hat. Klar könne man auch Fleisch und Wurst aus dem Supermarkt kaufen, aber hier beim Metzger sei das schon eine andere Qualität, und manche Spezialitäten gebe es nur hier. Vor der Flut sei es ein kleines Familienritual gewesen, am Samstagvormittag in die Stadt zu gehen und beim Metzger einzukaufen.

Das wieder geöffnete Geschäft ist für die Frau offenbar ein wohltuendes Zeichen von Normalität, die ins Ahrtal zurückgekehrt ist. Wer aber genauer hinschaut, findet noch immer überall Spuren der Flut. Schon am Marktplatz, der auf den ersten Blick idyllisch wirkt, ist hinter einigen Fenstern zu sehen, dass sich die Ladenräume erst im Rohbau befinden. Der Weg durch die Altstadt von Ahrweiler Richtung Fluss offenbart, wie viel noch im Argen liegt. An manchen Häusern ist die Schlammschicht, die das Hochwasser mitgebracht hat, noch immer deutlich zu erkennen. Fenster sind geborsten, andere Fassaden sind mit Sperrholzplatten verschraubt. In Ordnung ist im Ahrtal vieles längst noch nicht.

Einer, der die Probleme hier kennt, ist Lucas Bornschlegl. Auf dem noch immer brach liegenden Campingplatz am Ahrtor sitzt er in einer kleinen Holzhütte, die dem Verein Ahrche e. V. als Büro dient. Als Bornschlegl gerade das Gespräch mit mir beginnen will, rollt ein Kleinwagen auf den Platz. Ein älterer Mann steigt aus, mit einem Navigationsgerät in der Hand. Er fragt, ob er helfen könne, das Gerät einzurichten. Bornschlegl ruft andere Menschen – ob sie sich um das Technikproblem kümmern könnten? Sie können. Alle sind gut gelaunt. Hinter verschlossener Tür erzählt Bornschlegl die Geschichte des Mannes. Seine Frau habe mit den Folgen der Flutkatastrophe nicht umgehen können, habe sich über Monate zu Tode gehungert. Auch er habe an Lebensmut verloren. Bornschlegl sagt, er sei froh, dass sich das mittlerweile geändert habe. Da helfe man auch gerne bei der Programmierung eines Navigationsgeräts. Er meint, die Ahrche sei ein Ort, der eine wichtige Rolle für die »subjektive Sicherheit« der Anwohner spiele. »Man kann hier einfach herkommen und muss sich nur trauen, eine Frage zu stellen. Dann schauen wir, wie wir helfen können«, sagt Bornschlegl.

Die Ahrche, die den Beinamen Verein für Katastrophenhilfe und Wiederaufbau trägt, entstand aus einem spontanen Impuls. Lucas Bornschlegl, der eigentlich in Chemnitz »Management and Organisation Studies« studiert, kommt aus dem Kreis Ahrweiler. Als vor einem Jahr die Flut hereinbrach, befand er sich gerade auf dem Weg in den Urlaub. Ferien machen, während seine Heimat untergeht, das wollte er aber nicht. Also ist er umgekehrt, hat einen Pavillon sowie einen Stromgenerator organisiert und eine Dusche gebaut. Schnell kam eine Gulaschkanone dazu. Ein kleiner Ort der Hilfe war entstanden. Menschen konnten ihre Telefone aufladen, sich waschen, etwas essen. Das waren in den Tagen nach der Flut dringende Bedürfnisse.

Daraus entwickelte sich in den vergangenen Monaten ein beachtliches Hilfszentrum. Die Strukturen wurden professioneller, es flossen Spendengelder. Als es auf den Winter zuging, baute der Verein zusammen mit Handwerkern 1000 Elektroheizungen in Wohnhäuser entlang des Ahrtals ein, damit die Menschen wenigstens ein warmes Zimmer hatten. Gleichzeitig entstand auf dem Campingplatz eine regelrechte Stadt aus Zelten und Containern. Es gibt dort einen Waschsalon, einen Podologen, eine kleine Turnhalle, einen Werkzeugverleih und eine Großküche. Bornschlegl erzählt, dass auch jetzt noch 50 bis 100 Menschen zum Essen bei der Ahrche kommen. Mittlerweile sei es weniger so, dass Menschen zu Hause nicht kochen könnten, vielmehr sei die Ahrche »ein Ort, an dem man zusammensein kann«.

Insgesamt habe sich die Arbeit der Helfenden verändert, erzählt Bornschlegl. Häuser säubern, Schutt wegräumen, das ist ein Jahr nach der Katastrophe nur noch selten gefragt. Heute geht es um Dinge wie Heizungsbau oder Fliesenlegen. Arbeiten, für die oft nur Fachkräfte infrage kommen. Die Ahrche versucht, solche zu vermitteln, hat aber auch ihre eigene Arbeit angepasst. Spielplätze hat der Verein aufgebaut. Geplant ist auch ein Skater-Park. Lucas Bornschlegl sagt, dass man mit solchen Projekten versuche, Lücken in der öffentlichen Infrastruktur zu schließen.

Ein Jahr nach der Flut blickt Bornschlegl recht optimistisch auf den Zustand des Tals. »Es ist ein bisschen zynisch, aber ich freue mich, dass sich Menschen über dreckige Bürgersteige oder das zu laute Schützenfest ärgern.« Das zeige, dass die Alltagsprobleme wieder ein Thema sind.

Es ist allerdings nur ein Hauch von Normalität, der ins Ahrtal zurückgekehrt ist. Wie mitgenommen viele Menschen noch immer von der Katastrophe sind, das habe sich kürzlich beim Hochwasser in Kärnten gezeigt, meint Bornschlegl. Viele habe das sichtlich bewegt, Tränen seien geflossen, die Gespräche hätten sich darum gedreht, ob und wie den Menschen dort geholfen werden kann. Mit dem anstehenden Flutjahrestag wolle die Ahrche sensibel umgehen, sagt Bornschlegl. Das Zentrum habe geöffnet, es gebe Essen. Man sei eben da. Nicht mehr, nicht weniger. Einen Tag später, am 16. Juli, will man bei Gegrilltem und Salat einen »schönen Abend haben« und auf ein Jahr Ahrche zurückblicken.

Ruhig am Grill, so wollen auch viele Menschen in Hagen-Hohenlimburg den Jahrestag der Flut verbringen. Auf große Feierlichkeiten haben sie hier an der Grenze zwischen Ruhrgebiet und Sauerland keine Lust. Hagen und der angrenzende Märkische Kreis waren fast 24 Stunden vor dem Ahrtal vom Starkregen erfasst worden. In den Kleinstädten Altena und Werdohl, nur ein paar Kilometer den Fluss Lenne aufwärts, waren zwei Feuerwehrmänner gestorben.

Dass in Hagen niemand umkam, sei Glück gewesen, sagt Michael Funke, der bei der Hagener Feuerwehr für Katastrophenschutz und extreme Wetterereignisse zuständig ist. Über die Flutnacht sagt er: »Auf das, was hier passiert ist, kann sich keine Kommune in Deutschland vorbereiten.« Bei einer Anhörung im Landtag fasste es ein Kollege des Feuerwehrmannes prägnant zusammen: »Wenn die Feuerwehr Hagen zeitgleich fünf Mehrfamilienhäuser löschen muss, dann machen wir das. Das schaffen wir. Wenn aber zeitgleich ein ganzes Stadtviertel brennt, dann können wir das nicht mehr löschen.«

Michael Funke ist zu Gast bei einem Erzählabend, den das Projekt Klimaanpassung, Hochwasser und Resilienz (Kahr) im Stadtteil Hohenlimburg veranstaltet. Kahr ist ein vom Bundesforschungsministerium gefördertes Wissenschaftsprojekt. Teams von Universitäten aus ganz Deutschland, die zu unterschiedlichen Aspekten des Hochwassers forschen, nehmen daran teil. Sie wollen die Zusammenhänge des Klimawandels verstehen, arbeiten zum Katastrophenschutz oder untersuchen die Erlebnisse von Betroffenen.

Zum Erzählabend sind 15 Menschen gekommen. Ein Erfolg für Marisa Fuchs von der Technischen Universität Dortmund. Zu einem vorherigen Termin im Stadtteil Wehringhausen kamen nur zwei Menschen. Viele, die jetzt in den Gemeindesaal gekommen sind, haben während der Katastrophe geholfen. Manche sind bei der Feuerwehr, andere engagieren sich bei Wohlfahrtsverbänden. Das nimmt den Schilderungen allerdings nichts von ihrer Emotionalität.

»Die meisten Menschen bekommen das Geräusch des Wassers nicht aus dem Kopf«, erzählt eine Helferin, die seit der Flut von Tür zu Tür geht und Menschen dabei unterstützt, Anträge für Entschädigungen auszufüllen. Entschädigungen und Soforthilfen sind für die Betroffenen beim Erzählabend ein emotionales Thema. Ein junges Paar berichtet, dass es kein Geld bekommen habe, weil nur ihr Keller überflutet war, nicht die Wohnräume. Der 85-jährige Hermann Nijhuis war auch vom Hochwasser betroffen und beschwert sich im Gemeindesaal: »Bei mir ist keiner gewesen.« Sofort bekunden mehrere Mitarbeiterinnen von Wohlfahrtsverbänden, ihn besuchen zu wollen. Offenbar fühlen sich viele Menschen nach der Flut alleingelassen.

Marina Schmalenbach vom Roten Kreuz erzählt von einer alten Dame, die noch Monate nach der Katastrophe in einem Haus lebte, das aussah wie am Tag nach der Flut. Sie habe den Lebenswillen verloren, habe eine Ansprache durch die Rotkreuz-Helferinnen abgewiesen und erklärt, ihr könne sowieso niemand mehr helfen. Schmalenbach sagt, es habe gedauert, bis sie Vertrauen gewonnen hatte. Man sei dann mal zusammen einkaufen gefahren, habe den Kontakt langsam intensiviert. Heute komme die alte Dame einmal in der Woche zur Tagespflege des Roten Kreuzes, auch ihr Haus sieht nicht mehr ramponiert aus. Ein kleiner Erfolg inmitten vieler persönlicher Katastrophen.

Beim Roten Kreuz hat man auf diese Erfahrungen mit dem Projekt Herzmenschen reagiert. Allein mit den hauptamtlichen Kräften kann die Hilfsorganisation die Betreuung nicht leisten, die jetzt wichtig ist: den Betroffenen der Flut ausreichende emotionale Unterstützung zu geben. Ehrenamtliche werden dafür in Wochenendkursen geschult. Ihre Aufgabe ist es dann, einfühlsam auf die Flutopfer zugehen, zuhören und wenn es nötig ist, professionelle Hilfe zu organisieren. Schmalenbach sagt beim Erzählabend, viele Flutopfer seien »noch nicht gehört und gesehen« worden.

Ob im Ahrtal oder in Hagen: Viele der sichtbaren Spuren des Hochwassers sind zwar beseitigt. Oft haben sich die Menschen auf Provisorien eingestellt. Im Alltag gibt es für viele oft nur noch kleine Unannehmlichkeiten. Was aber bleibt, sind die seelischen Wunden, die das Hochwasser bei den Menschen hinterlassen hat. Sie zu heilen wird länger dauern als der Bau neuer Brücken und Häuser.

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