• Politik
  • Soziale und politische Krise

Italiens Regierung vor Zerreißprobe

Die Spannungen in Mario Draghis Vielparteienkoalition nehmen mit der sozialen Krise immer mehr zu

  • Wolf Wagner, Florenz
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Donnerstag haben die Senatoren der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) nicht für ein Hilfsprogramm der Regierung Mario Draghis gestimmt. Das Votum in der oberen Kammer des Parlaments war mit einer Vertrauensabstimmung zur Draghi-Administration verknüpft. Die M5S-Enthaltung zeigt, wie fragil wieder einmal die römische Regierung ist. Von 211 gültigen Stimmen waren 172 für und 39 gegen den Gesetzentwurf, der sowohl Familien als auch Unternehmen in der gegenwärtigen Krise Unterstützung geben soll. Für den Donnerstagnachmittag hatte Premier Draghi eine Kabinettssitzung einberufen. Die Abstinenz der Sterne-Bewegung wertete er als herben Vertrauensverlust. Draghi überlegt, sein Amt niederzulegen.

Seit Wochen herrscht heftiger Streit in Italiens Vielparteienkoalition in der Frage, wie der sozialen Krise im Land zu begegnen ist. Die Fünf Sterne unter dem früheren Ministerpräsidenten Giuseppe Conte fordern, einen neuen Mindestlohn einzuführen. Ihr Vorschlag, der von den meisten Gewerkschaften unterstützt wird, liegt bei 9 Euro pro Stunde. Regierungschef Draghi, früherer Chef der Europäischen Zentralbank, hält von solch einer generellen Lösung nicht viel. Bei einem Treffen mit den Gewerkschaften hatte Draghi eine Option vorgeschlagen, die sich aus einem Steuermoratorium, branchengebundenen Mindestlöhnen und finanziellen Hilfen zusammensetzt. Die Vertreter der drei größten Gewerkschaften CGIL, CSIL und UIL stimmten einem solchen Paket ad hoc nicht zu. Weitere Beratungen seien notwendig, man werde sich in der letzten Juliwoche erneut treffen, erklärte der CGIL-Vorsitzende Maurizio Landini.

In Übereinstimmung mit den Unternehmerverbänden sieht Draghi einen Mindeststundenlohn von 9 Euro nicht im Bereich des Möglichen. Er verweist auf das gegenwärtige Lohngefüge Italiens, in dem zu viele verschiedene Vertragsmodelle existierten. In der Tat sind die Tarifverträge das Hauptproblem, um die Lohnfrage befriedigend zu klären. Nur ein Fünftel aller abgeschlossenen Arbeitsverträge basiert auf Tarifvereinbarungen mit den Gewerkschaften. Hinzu kommt, dass die meisten dieser Verträge bereits vor mindestens drei Jahren abliefen und nicht erneuert wurden. Um jedoch einen landesweiten Mindestlohn festlegen zu können, müssten diese Verträge zuerst aktualisiert werden.

Um dennoch zeitnah eine Entlastung auf den Weg zu bringen, schwebt Draghi unter anderem vor, Beschäftigte mit bis zu 35 000 Euro Jahreseinkommen von der Steuer zu befreien. Die Gewerkschaften fordern zudem zum Jahresende einen Inflationsausgleich in Höhe von einem Monatslohn.

Auf der anderen Seite fordern auch die Unternehmer staatliche Unterstützung. Viele Betriebe haben wegen mit der Ukraine-Krise verbundenen Materialengpässen und erhöhten Energiepreisen Existenznöte. Aktuell summieren sich die Forderungen der Industrie auf 16 Milliarden Euro. 10 Milliarden Euro könnten für zusätzliche Sozialleistungen fließen. Der Wegfall der Steuereinnahmen auf Einkommen bis 35 000 Euro würde den Staat weitere 1,5 Milliarden Euro kosten.

Im Vergleich zu anderen EU-Staaten liegt Italien mit einer Inflationsrate von 6,9 Prozent eher im unteren Bereich. Bei einem Durchschnittseinkommen, das bei Facharbeitern etwa 1500 Euro im Monat beträgt, schlägt sie sich im Alltag aber hart nieder. Allein die Kosten von Strom und Gas haben sich im Vergleich zum Vorjahr glatt verdoppelt.

Beobachter verwundert, dass die sozialdemokratisch orientierte Demokratische Partei (PD) sich den Forderungen der Sterne-Bewegung nicht angeschlossen hat, sondern der Stabilisierung der Draghi-Regierung den Vorrang gibt. Mit dem Vertrauensvotum vom Donnerstag ist die Krise nicht entschärft. Rechts außen drängen die Lega von Matteo Salvini und die Fratelli d’Italia unter Giorgia Meloni bereits auf Neuwahlen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -