»Ich will Lukaschenkos Armee stehlen«

Ein Gespräch mit der belarussischen Menschenrechtsaktivistin Olga Karatch über ihre Probleme mit Lukaschenko, die Ukraine und TikTok

  • Lesedauer: 6 Min.

In Belarus gelten Sie als Terroristin, weshalb Sie in Vilnius im Exil leben. Wie ist es dazu gekommen?

Wegen meiner aktivistischen Arbeit hat mich das Lukaschenko-Regime als Extremistin eingestuft. Das belarussische KGB (der belarussische Geheimdienst, Anm. d. Red.) führt mich auf seiner öffentlichen Liste von Organisationen und Individuen, die in terroristische Aktivitäten involviert sind. Einer der Vorwürfe ist recht amüsant: Lukaschenko beschuldigt mich, ich hätte eine russische Militärradarstation in der belarussischen Stadt Wilejka sprengen wollen – und dass Angela Merkel dahinter steckt. Hinzu kommt, dass die belarussische Regierung zwölf strafrechtliche Ermittlungen gegen mich eröffnet hat, wegen aktiver Partizipation bei den Protesten in Belarus im Sommer 2020 gegen die Präsidentschaftswahl. Ich war aber gar nicht im Land. Denn als klar war, dass am 15. März 2020 die belarussischen Grenzen wegen der Corona-Pandemie schließen werden, bin ich nach Litauen gefahren und dort für das gesamte Jahr geblieben. Ich habe eine schwere Autoimmunerkrankung und bekomme dort die notwendige medizinische Behandlung. Mittlerweile droht mir in Belarus die Todesstrafe, das höchste Strafmaß für Terrorismus. Das könnte mir also bevorstehen, wenn ich dorthin zurückkehre. Es kann auch sein, dass mir bald meine Staatsbürgerschaft aberkannt wird, weil ich auf der Liste des Geheimdienstes stehe.

Interview

Olga Karatch, 43, ist Menschenrechtsaktivistin aus Belarus. Seit 2005 ist sie Direktorin der Nichtregierungsorganisation Nash Dom (Unser Haus). Die NGO klärt über Menschenrechtsverletzungen in Belarus auf und unterstützt Betroffene mit rechtlicher und psychologischer Expertise und ist in 15 Städten aktiv. Momentan lebt Karatch mit ihrer Familie im Exil in Litauen.

Sie sind schon mehrmals festgenommen worden. In Belarus gibt es immer häufiger Berichte über schlimme Folterungen. Was sind Ihre Erfahrungen?

Im Jahr 2011 wurde ich mit 18 anderen Aktivist*innen von meiner NGO »Unser Haus« festgenommen. Wir hatten einen Workshop organisiert, wie mehr Transparenz bei Budgets in der Kommunalpolitik hergestellt werden kann. Nach meiner Festnahme wurde ich von einem Polizisten schlimm geschlagen. Ich wurde sexuell belästigt und er erklärte mir, wie er mich vergewaltigen würde. Der einzige Grund, warum das nicht passiert ist, ist die öffentliche Aufmerksamkeit, die mein Fall erregt hat. Da ich eine bekannte Menschenrechtsverteidigerin bin, war meine Verhaftung ein großer internationaler Skandal. Andere inhaftierte Frauen haben dieses Privileg nicht und ihnen stößt Schlimmes zu. Deshalb habe ich eine Kampagne gestartet und als erste Frau öffentlich über sexuelle Gewalt der Polizei gegen Menschenrechtsaktivistinnen gesprochen. Gemeinsam mit anderen Betroffenen haben wir Druck auf das Innenministerium aufgebaut. Das war einer der Gründe, warum dieser Polizist für vier Jahre ins Gefängnis gekommen ist. Denn in Belarus ist es untypisch, dass Polizist*innen für ihr Verhalten bestraft werden. Es gibt leider Menschen, die auf Polizeistationen nicht nur vergewaltigt, sondern sogar getötet werden.

Belarus ist in den Krieg gegen die Ukraine involviert. In welche Zukunft bewegt sich Ihr Land?

Gemeinsam mit meiner Organisation »Unser Haus« organisiere ich humanitäre Hilfe für ukrainische Geflüchtete. Aber diese Arbeit – und das ist mir klar – hat keinen strategischen Einfluss auf den Krieg. Deshalb haben wir entschieden, Lukaschenko seine Armee zu stehlen. Das Risiko wird immer größer, dass sich bald nicht nur von belarussischem Territorium am Krieg beteiligt, sondern auch die Armee in die Ukraine entsandt wird.

Mit welchen Mitteln versuchen Sie, die Armee von Lukaschenko zu stehlen?

Im Februar 2022 hat der Verteidigungsminister die militärische Mobilisierung gestartet und über 43 000 Einberufungsschreiben versandt. Das versuchen wir zu blockieren mit einer Kampagne: »Nein heißt Nein«. Wir versuchen, junge Männer zu unterstützen, wenn sie sich nicht in eine Kriegssituation begeben möchten. Mit Erfolg: Bisher sind von den 43 000 nur 6 000 Männer in die Armee eingetreten. Und am Dienstag wurde der General, der für die Mobilisierung verantwortlich ist, entlassen. Tausende junge Belarussen haben bereits das Land verlassen, weil sie nicht in der Armee kämpfen wollen. Für mich ist das ein sehr gutes Resultat. Mit unserer Kampagne haben wir mehr als zweieinhalb Millionen Menschen erreicht. Mein Video auf Tiktok ist sogar viral gegangen (fast 600 000 Views, Anm. d. Red.). Ich habe den Männern dort in meiner Rede gesagt: Sobald ihr den Brief bekommt, rennt!

Was passiert dann mit diesen Männern?

Sie müssen aus dem Land fliehen. Wir versuchen derzeit, ihnen zu helfen, woanders Fuß zu fassen. Diese jungen Männer brauchen Unterkünfte und Jobs, denn zurück können sie nicht. Entweder würde man sie ins Gefängnis stecken oder einziehen. Diese Männer sind 18 oder 19 Jahre alt. Viele von ihnen möchten keinen Krieg, sie möchten nicht um die Ukraine kämpfen. Und meiner Meinung nach ist das auch ihr Recht.

Glauben Sie, Lukaschenko wird als aktiver Part in den Krieg einsteigen?

Ich glaube, das wird der Preis sein, den er für Wladimir Putins Hilfe zahlen muss, die ihn an der Macht gehalten hat. Lukaschenko ist ein blutbefleckter, mächtiger Diktator, aber er steht unter enormem Druck von Putin. Es gibt Informationen, dass die belarussische Armee in den Vorbereitungen steckt, in die Ukraine einzuwandern. Eine weitere Armee in diesem Krieg würde eine weitere Eskalation des Konfliktes bedeuten. Ich glaube aber, dass wir noch die Chance haben, nicht aktiv zu werden.

Belarussische Bahnarbeiter haben die Schienenverbindung in die Ukraine unterbrochen, um die russischen Truppen zu schwächen. Wie ergeht es der belarussischen Zivilgesellschaft?

Politischer Aktivismus und Widerstand sind in Belarus sehr schwierig. Es gibt mehrere Tausend politische Gefangene, sogar Kinder. Und die Zahl steigt weiter. Und vielen Müttern wird angedroht, dass ihnen ihre Kinder weggenommen werden, weil sie bei den Protesten im Sommer 2020 dabei waren.

Auch die Medien werden stark unterdrückt. Dem internationalen Index für Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen zufolge liegt Belarus weltweit auch Platz 153 von 180. Gibt es noch Zugang zu unabhängigen Informationen im Land?

Nicht nur »traditionelle« Journalist*innen, sondern auch alle unabhängigen Blogger*innen haben mittlerweile das Land verlassen. In Belarus ist es unmöglich, frei zu arbeiten – es drohen Gefängnisstrafen. Die Situation ist ähnlich für Administrator*innen von Telegram-Kanälen und Facebook-Gruppen. Es gibt noch Quellen und Informationen, die aus Belarus verschickt werden, aber die Menschen müssen sehr vorsichtig sein damit. Journalist*innen, die aus dem Exil berichten, haben nicht ausreichend Zugang zu Informationen. Aber ich bin froh, dass die Menschen in Belarus weitermachen und noch immer friedlich kämpfen. Ich habe viel Respekt vor ihnen, besonders weil Lukaschenko den Paragrafen gegen Terrorismus immer häufiger anwendet.

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