Gorlebens Erbe

Die längste Anti-Atom-Demo aller Zeiten soll das Ende der Atomkraft feiern. Die Aktion steht im Schatten der Debatte um verlängerte AKW-Laufzeiten

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer kennt schon Taaken? Das Dörfchen ist ein Ortsteil der Gemeinde Reeßum in der Samtgemeinde Sottrum im Landkreis Rotenburg (Wümme), also in der Mitte Niedersachsens. Es hat ein paar schöne Fachwerkbauernhöfe, knapp 400 Einwohner, einen Kindergarten und ein Spritzenhaus der Feuerwehr. Dass Taaken weitgehend unbekannt ist, könnte sich bald ändern. Denn als mögliche Standorte für ein Atommüll-Endlager listet die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) in ihrem Zwischenbericht vom September 2020 gleich sieben Gebiete im Kreis Rotenburg auf, darunter auch den rund 85 Quadratkilometer großen unterirdischen Salzstock Taaken/Scheeßel/Ostervesede. Einheimische Umweltschützer befürchten, dass der Salzstock in die engere Auswahl gelangen könnte, obwohl es in der Region Hinweise auf Erdbeben wegen Erdgasförderung gibt.

Deshalb haben Aktive aus Taaken die Bürgerinitiative »Kein Endlager im Landkreis Rotenburg« mitgegründet. Und deshalb war Taaken am Donnerstag dieser Woche das Etappenziel bei der ersten von zwei jeweils mehrwöchigen Anti-Atom-Radtouren, die in diesem Sommer durch Deutschland und mehrere Nachbarländer führen. Von der Anti-Atom-Organisation »ausgestrahlt« organisiert, ist die – gemessen an der Dauer – längste Demonstration gegen Atomkraft am 9. Juli mit Dutzenden Radlerinnen und Radlern am belgischen AKW Tihange gestartet. Die Tour führte über Aachen – in der »heimlichen Anti-Atom-Hauptstadt« kickt der örtliche Fußballclub Alemannia zugunsten des Widerstandes, der Städteregionspräsident hat Anti-AKW-Klagen von mehr als 100 Kommunen initiiert und mehrere zehntausend Menschen demonstrierten gegen Atomenergie. Über das Forschungszentrum Jülich mit seinem Kugelhaufenreaktor radelten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Keyenberg. Das Dorf soll dem Braunkohletagebau Garzweiler weichen. »Dem Ausstieg entgegen«, so lautet das Motto dieser Radtouren, mit denen die Demonstranten vor allem die bevorstehende Abschaltung der letzten Atomkraftwerke feiern wollen. Die Reaktoren Emsland in Niedersachsen, Isar-2 in Bayern und Neckarwestheim-2 in Baden-Württemberg müssen laut Atomgesetz nämlich spätestens zum Jahresende vom Netz gehen. Eigentlich.

Mit Blick auf den Krieg gegen die Ukraine und drohende Engpässe bei der Gasversorgung mehren sich jedoch Forderungen, die Laufzeiten der drei Meiler zu verlängern. »Für die kommenden Jahre, in denen wir noch nicht ausreichend erneuerbare Energien zur Verfügung haben, kann die Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke etwas Luft verschaffen«, sagt etwa die »Wirtschaftsweise« Veronika Grimm. Aus Sicht des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz macht es »keinen Sinn, Kraftwerke abzuschalten, die Strom erzeugen und dafür Gaskraftwerke laufen zu lassen, die auch Strom erzeugen«. Und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder meint: »Um eine Stromlücke zu verhindern, ist es notwendig, die deutschen Kernkraftwerke über das Jahr 2022 hinaus laufen zu lassen.«

Das Thema droht auch Zwist in die Ampel-Koalition zu tragen. Während sich FDP-Chef Christian Lindner inzwischen mehr oder weniger deutlich für längere Laufzeiten ausspricht, ließ Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen jetzt mitteilen, er wolle noch einmal nachrechnen, ob ein Weiterbetrieb der AKW doch Sinn machen könnte.

Und sind die Klimakrise, die hohen Energiepreise und die Abhängigkeit von russischem Gas nicht wirklich gute Gründe für längere Laufzeiten? »Die Fakten sprechen dagegen«, sagt Wolfram König, Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE). Die drei AKW steuerten mit rund sechs Prozent nur wenig zur gegenwärtigen Stromversorgung bei. Als Erdgas-Ersatz kämen sie auch gar nicht infrage. Gas werde vor allem in der Industrie und zum Wärmen von Haushalten eingesetzt, Atomenergie dagegen für die Stromerzeugung. »Also: Die drei verbleibenden Kernkraftwerke können keinen wesentlichen Beitrag zur Lösung für unsere Energiebedarfe im nächsten Winter leisten.« Zudem können Atommeiler anders als Gaskraftwerke nicht flexibel hoch- und runtergefahren werden und auch keine Fernwärme produzieren. »Kommt der Gasimport aus Russland zum Erliegen, ist das eine Gaskrise – keine Stromkrise«, argumentiert Armin Simon von »ausgestrahlt«.

Einer Recherche von Greenpeace, BUND und anderen Umweltorganisationen zufolge sind Deutschland und Europa im Übrigen auch bei der nuklearen Brennstoffversorgung von Russland abhängig: So habe die EU im Jahr 2020 rund 20 Prozent ihres Urans aus Russland bezogen, weitere 19,1 Prozent seien von Russlands Verbündetem Kasachstan gekommen. In der Europäischen Union ist kein Uranbergwerk mehr aktiv, nachdem die rumänische Crucea-Mine im November 2021 stillgelegt wurde. Die Deutsche Umwelthilfe kündigte in dieser Woche eine Klage an, wenn die AKW über den 31. Dezember hinaus in Betrieb blieben. »Die Befürworter der Laufzeitverlängerung spielen russisches Roulette mit der Sicherheit der Menschen«, so der Geschäftsführer der Umwelthilfe, Sascha Müller-Kraenner. Die veralteten Anlagen seien ein täglich größer werdendes Sicherheitsrisiko, ihr Weiterbetrieb bedrohe das Grundrecht auf Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit. Selbst die AKW-Betreiber RWE, EnBW und Eon sehen längere Laufzeiten sehr skeptisch. »Ein Weiterbetrieb über den 31. Dezember hinaus wäre mit hohen Hürden technischer als auch genehmigungsrechtlicher Natur verbunden« , erklärte etwa RWE.

Auch EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton schaltete sich in die deutsche Nukleardebatte ein. »Es ist äußerst wichtig, die drei deutschen Kernkraftwerke, die noch in Betrieb sind, länger laufen lassen«, sagte er und verwies auf sein Heimatland Frankreich, wo noch 56 Atomkraftwerke am Netz sind. Tatsächlich stehen zurzeit 30 dieser Reaktoren still – einige wegen Sicherheitsuntersuchungen, andere wegen Revisionsarbeiten. Bei weiteren führten Hitze und niedrige Wasserstände zur Leistungsdrosselung. Seit Jahresbeginn bezieht Frankreich nahezu täglich Strom aus Deutschland in einer Größenordnung von bis 100 Gigawattstunden. Das entspricht der Leistung von drei konventionellen oder nuklearen Großkraftwerken. Rechnerisch laufen die drei letzten deutschen Atomkraftwerke also nur noch für den Stromexport ins gelobte Atomland Frankreich.

Von Taaken aus machten sich die Fahrrad-Demonstranten auf den Weg nach Stade. Das AKW Stade wurde von 1972 bis 2003 betrieben. Der Abriss dauert bis heute an, obwohl er schon 2015 abgeschlossen sein sollte. Der Betreiber rechnet für den Rückbau mit Kosten von einer Milliarde Euro – doppelt so viel wie ursprünglich veranschlagt. Nach Stade werden unter anderen die stillgelegten Atomkraftwerke Brokdorf und Krümmel sowie die »Atommülldrehscheibe« Hamburg angefahren. Entlang der Castortransport-Strecke geht es schließlich nach Gorleben, wo am 30. Juli ein Abschaltfest auf dem Programm steht. Bevor Gorleben 1977 als Standort für ein »Nukleares Entsorgungszentrum« benannt wurde, war der Ort genauso unbekannt wie Taaken es heute ist.

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