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Es wird nie wieder einen Sommer wie diesen geben

Es fühlt sich an wie einer dieser Träume, in dem man klar spürt, dass er bald vorbei ist: Ein Sommer in den 90ern

  • Ayesha Khan
  • Lesedauer: 4 Min.
Ich würde mir einen Ferienpass besorgen, mich in die U3 und U2 setzen und stundenlang im Kreis fahren.
Ich würde mir einen Ferienpass besorgen, mich in die U3 und U2 setzen und stundenlang im Kreis fahren.

Läuft gut dieser Sommer, oder? Gerade sind Schulferien, viele Menschen machen Urlaub. Die Zeitungen melden Rekordtemperaturen, Hochbetrieb an den Flughäfen, die Freibäder sind voll, die Pommes und das Eis sind etwas teurer geworden, aber was soll’s! Lasst uns auf Konzerte und Festivals, auf Straßenfeste und in Freizeitparks, solange es das Klima noch zulässt. Lange geht das nicht gut. Hätte ich das mal früher gewusst, vielleicht hätte ich einiges anders gemacht. Ich weiß, Fahrradkette.

Aber wie habe ich die Sommerferien als Jugendliche geliebt. Wir besorgten uns Ferienpässe und los ging’s. Da die meisten Eltern meiner Freund*innen, wie meine Eltern, auch während der Ferien arbeiteten, hingen wir fast die gesamten Ferien zusammen ab. Ein paar von uns hatten einen Ferienjob, andere jüngere Geschwister oder Cousinen und Cousins aus anderen Städten oder gar Ländern zu Besuch. Das hielt uns nicht davon ab, die Vorteile des Ferienpasses voll auszukosten: Workshops, Besuche im Tierpark, Freibad, Events in den Bücherhallen und sogar Museen – auch wenn wir diese öde fanden, aber immerhin war der Eintritt umsonst. Das Highlight des Sommers bildete die Reise zum Freizeitpark Heide Park Soltau. Es wurden Gutscheine auf Joghurtdeckeln und in Nutellagläsern gesammelt, damit man sich mit den Freund*innen den Besuch leisten konnte. Und wenn es mal in einem Jahr nicht möglich war, kein Problem! Der Hamburger Sommerdom war immer eine gute Alternative. Dort hing man dann mit den coolen Leuten der Stadt am Autoscooter ab. Aber da, wo Hip-Hop lief, nicht der Techno -Autoscooter. Da hingen andere Jugendliche ab, mit denen man damals lieber nichts zu tun haben wollte.

Manchmal war man aber auch tagelang alleine. Anders als bei uns konnten einige Freund*innen in den Ferien zu ihren Großeltern. In die Heimat. Ich erinnere mich an rührende Abschiedsszenen, an viel zu vollgepackte Autos. Ich hatte immer gedacht, so etwas gäbe es nur im Film, aber es gab tatsächlich Leute, die mehrere Koffer mit Spanngummis und -gurten auf dem Dach ihrer Autos befestigten und damit Richtung Türkei fuhren. Es faszinierte mich. Ich kannte so was nicht. Nur ein einziges Mal fuhren wir im Sommer mit dem Auto nach London, zu meinen Großeltern. Unterwegs holten wir meine Cousinen aus Frankfurt ab. Die Fahrt dauerte mehrere Tage und wir hatten auf den Rücksitzen richtig Spaß. Es waren die 90er. Mambo No. 5 von Lou Bega war gerade erschienen und wurde zum Soundtrack unseres Roadtrips. Damals konnten noch vier Kinder hinten sitzen, und niemand sagte was. Ja, ab und zu wurde man kontrolliert, aber wirklich Probleme gab es nicht. Wir waren noch Kinder, die Erinnerungen verblassen. Aber das war vor dem 11. September und bevor jede Fahrt im Auto mit meinem Vater oder Onkel zum Spießrutenlauf wurde.

Ich würde gerne wieder zurück zu einem Sommer in den 90ern. Ich würde mir einen Ferienpass besorgen, mich in die U3 und U2 setzen und stundenlang im Kreis fahren. Vielleicht würde ich an den Landungsbrücken aussteigen und schauen, was für Touris gerade da sind. Welche Sprachen gerade zu hören sind. Ich würde mir vorstellen, dass das meine Familie wäre. Dass wir gerade in einem schicken Hotel an der Alster hausen würden und Sightseeing am Hafen machen. Vielleicht würden wir mit einem dieser roten Stadtrundfahrten-Doppeldeckerbusse fahren, wer weiß?

Am Ende des Tages sitze ich wieder in der U2 und schaue sehnsüchtig aus dem Fenster. Die Ferien sind bald zu Ende. Ich muss wieder in die Schule. Ich steige in Mundsburg aus, um noch schnell ins Einkaufscenter zu gehen. Ich habe zwar kein Geld zum Ausgeben, aber Gucken kostet nichts. Außerdem ist hier immer die Klimaanlage an. Bevor es dunkel wird, bin ich wieder zu Hause. Meine Mama ist von der Arbeit zurück und fragt uns, ob alles für die Schule vorbereitet ist. Wir nicken brav, aber nichts ist vorbereitet. Es fühlt sich an wie einer dieser Träume, in dem man klar spürt, dass er bald vorbei ist. So sitzen wir da, mein Bruder und ich, an den letzten Tagen der Ferien und wissen genau, dass es nie wieder einen Sommer wie diesen geben wird.

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