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»Die Natur ist kein Objekt«
Das Verfassungskonvents-Mitglied Manuela Royo und ihre Schwester Jimena Royo über den Kampf für eine sozial-ökologische Magna Charta
Wie war das Jahr des Verfassungskonvents von Juli 2021 bis Juli 2022 für Sie?
Manuela Royo Letelier ist Anwältin, Mapuche-Strafverteidigerin, Historikerin, Sprecherin der Bewegung für den Schutz des Wassers, der Erde und der Umwelt (Modatima). Als deren gewählte Delegierte aus der Region Araucanía war sie im Verfassungskonvent in den Kommissionen für Menschenrechte und Justiz aktiv und setzte sich insbesondere für Umweltfragen, Geschlechterparität und Plurinationalität ein. Jimena Royo Letelier ist Mathematikerin an der Universidad de Chile. Sie koordiniert die Kommunikationsabteilung des Zusammenschlusses von 85 sozialen und Umweltbewegungen »Apruebo Nueva Constitución« für ein »Ja« zur neuen Verfassung und arbeitet mit ihrer Schwester Manuela Royo zusammen. Mit ihnen sprachen Ute Löhning, Susanne Brust und Martin Schäfer.
Manuela Royo Letelier (MRL): Es war eine sehr schöne Arbeit. Wir haben in diesem Prozess nicht nur eine neue Verfassung geschrieben, sondern den Verfassungskonvent auch zu einer Plattform des politischen Austauschs gemacht.
Jimena Royo Letelier (JRL): Das war allerdings sehr anstrengend. Die Sitzungen gingen oft bis nachts, viele Delegierte sind körperlich und psychisch am Ende. Und die Regierung unter Ex-Präsident Sebastián Piñera, die dafür zuständig war, den Konvent auszustatten, hat uns Mitarbeiter*innen nichts gegeben, nicht mal einen Kugelschreiber oder einen Schreibtisch.
»Chile ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat. Er ist plurinational, interkulturell, regional und ökologisch«, so beginnt der Verfassungsentwurf. Als Vertreterin der Umweltorganisation Modatima haben Sie, Manuela Royo, dort eine wichtige Rolle gespielt. Wie haben Sie dieses Ergebnis erzielt?
MRL: Wir arbeiten schon seit Langem an dem Konzept der Achtung der Rechte der Natur. Wir sagen, dass die Natur keine natürliche Ressource ist, kein Objekt, aus dem wir wirtschaftlichen Nutzen für das Wachstum des Landes ziehen können. Denn auch wir sind Teil des Ökosystems. Die Natur kann zwar ohne uns leben, wir aber nicht ohne sie. Deshalb müssen wir über eine neue Beziehung zur Natur nachdenken.
Wie schlägt sich diese Haltung im Verfassungstext nieder?
MRL: Es gibt ein besonderes Kapitel über Natur und Umwelt. Darin sind Umweltprinzipien und auch verschiedene Statuten über natürliche Gemeingüter definiert. Viele Linke meinen, dass man die Gewährleistung sozialer Rechte nur durch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen finanzieren kann. Wir aber lehnen schon den Begriff »natürliche Ressourcen« ab und sprechen stattdessen von natürlichen Gemeingütern. Dieses Thema müssen wir von links neu besetzen, damit die Umwelt nicht nur für einen grünen Kapitalismus herhält wie in Europa. Am meisten haben wir zum Thema Wasser gearbeitet. Wir schaffen mit der Verfassung ein Wasserstatut, in dem festgelegt ist, dass man mit Wasser nicht handeln kann. Außerdem wird es Nutzungsrechte geben, die sowohl eine soziale als auch eine ökologische Funktion erfüllen müssen.
Welche Strategie verfolgen Sie bei der Mobilisierung für die neue Verfassung, also für das »Apruebo« (Ich stimme zu) beim Plebiszit am 4. September?
JRL: Wir hoffen, dass es in den verbleibenden Wochen eine große soziale Mobilisierung geben wird. Jetzt, wo der Entwurf fertig ist, müssen wir die Menschen darüber informieren und auf die Straße gehen. Tatsächlich gibt es eine große Zahl von Unentschlossenen. Wir glauben, dass diese Menschen für die Verfassung stimmen werden, wenn sie wissen, was in dem Text steht.
In Chile gibt es viele Menschen, die rechts stehen. Aber historisch gesehen erzielt die Linke in wichtigen Abstimmungen etwa 60 Prozent, die Rechte 40. So war es beim Referendum zur Absetzung von Pinochet 1988 und 2021 bei der Wahl von Boric zum Präsidenten. Die Herausforderung besteht also darin, die Menschen zu mobilisieren. Aber wir haben nur noch sehr wenig Zeit und auch wenig Geld.
Die politische Rechte wirbt schon seit Langem für die Ablehnung der neuen Verfassung. Wie äußert sich das?
JRL: Sie verteilen auf der Straße aufwendig gemachte Flyer mit Falschinformationen über den Verfassungskonvent und kleben Plakate, auf denen steht: »Die Verfassung ist eine Lüge«. Ganz wie Verschwörungstheoretiker. Sie wollen Misstrauen schüren. Der Prozess in Chile ist dem sehr ähnlich, was in Großbritannien mit Cambridge Analytics und dem Brexit passiert ist. Es gibt viel Angst und eine Menge Manipulation.
Teile der europäischen Rechten unterstützen die Protagonisten des »Rechazo« (Ich lehne ab), also der Kampagne gegen die neue Verfassung. Wo liegen die engsten Verbindungen?
JRL: Die Beziehungen nach Spanien sind offensichtlich. Einige Mitglieder des Verfassungskonvents trafen sich dort im November 2021 mit Vertretern der rechtsradikalen spanischen Partei Vox, obwohl sie in dieser Zeit im Verfassungskonvent hätten sein müssen. Besonders auffällig war auch das Statement der spanischen Abgeordneten Cayetana Alvarez de Toledo vom Partido Popular. Auf der Titelseite der chilenischen Zeitung »Las Últimas Noticias« sagte sie, der verfassungsgebende Prozess in Chile suche nach dem, was die Chilenen spalte. Im »Mercurio«, der meistgelesenen Zeitung Chiles, sagte der spanische Philosoph Fernando Savater: »Verrückte hat es auf der Welt schon immer gegeben; das Problem ist, dass sie Verfassungen schreiben.«
Die großen Medien haben die Arbeit des Verfassungskonvents permanent attackiert: Zuerst wurden wir als Diebe bezeichnet, dann als faul, weil wir nichts geschrieben hätten, während wir in der Anfangszeit des Verfassungskonvents die Geschäftsordnung beschließen mussten. Dann gab es Vorwürfe, die Verfassung sei handwerklich schlecht gemacht. Im Verfassungskonvent hat sich eine gewisse Erschöpfung eingestellt, weil das wirklich zu viel ist. Es ist psychologische Kriegsführung, und das jeden Tag.
Studien zeigen, dass die Rechte mit vielen Fake News über den Inhalt des Verfassungsentwurfs arbeitet. Wie?
JRL: Zum Beispiel über das Radio. Felipe Kast, Senator der rechtsgerichteten Partei Evópoli und Neffe des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast, behauptete erst kürzlich, dass die Verfassung Abtreibungen bis zum neunten Schwangerschaftsmonat erlauben würde. Das ist eine schamlose Lüge. Ebenso wie die über Social Media verbreitete Behauptung, die Präsidentinnen des Verfassungskonvents bekämen auch in Zukunft eine monatliche Zahlung. Das ist einfach falsch. Das wissen die Rechten auch, aber ihre einzige Absicht ist es, zu zerstören und zu verwirren. Es gibt keinen ethischen oder moralischen Kodex mehr.
Aber es gibt auch gewichtige Personen aus dem Mitte-links-Spektrum, die sich gegen die neue Verfassung aussprechen. Warum?
JRL: Die Mitte-links-Parteien sind gespalten. Die Sozialistische Partei ist offiziell für die neue Verfassung, aber innerhalb der Partei gibt es alle möglichen Positionen. Bei den Christdemokraten gibt es einige, die für die neue Verfassung sind, vor allem Jüngere. Andere aus der Partei unterstützen aber auch das Rechazo. Das sind zumeist Personen, die seit dem Übergang von der Diktatur zur Demokratie sehr viel Macht haben. Viele sind Eigentümer*innen oder eng verbunden mit der Leitung von Unternehmen, zum Beispiel von Universitäten. Sie sind durch das neoliberale System in Chile reich geworden. Die neue Verfassung zielt darauf ab, genau diesen Profit mit Bildung, Gesundheit, Wohnen, Renten zu begrenzen.
MRL: Auch die Mitte-links-Parteien haben den Neoliberalismus jahrelang verwaltet und Privatisierungen vorangetrieben. Wenn sich die früheren Präsidenten Eduardo Frei und Ricardo Lagos jetzt dem Rechazo annähern, dann geht es beiden um eigene Interessen. Sie beziehen monatlich insgesamt rund 14 Millionen Pesos als Gehalt und als Zulagen für ihr Büro (umgerechnet rund 14 000 Euro). Das ist das 35-Fache des Mindestlohns (380 000 Pesos). Das alles ist in der Verfassung von 1980 festgelegt. In der neuen Verfassung gilt es nicht mehr.
Manuela Royo, als Mitglied des Verfassungskonvents wurden Sie bedroht. In welcher Form?
MRL: Schon in meiner Arbeit für Modatima habe ich solche Situationen regelmäßig erlebt, aber mit der Arbeit im Verfassungskonvent hat das stark zugenommen. Ich habe Morddrohungen über soziale Netzwerke bekommen. Vor ein paar Monaten erhielt ich eine Drohung mit Fotos von vergewaltigten und zerstückelten Frauen, wirklich schrecklich.
Konnten die Verantwortlichen in Ihrem Fall strafrechtlich belangt werden?
MRL: Ich habe insgesamt vier Anzeigen erstattet und auch eine Klage eingereicht, aber die Staatsanwaltschaft hat nie etwas unternommen. Selbst dann nicht, als ich die Person identifiziert hatte, ein geisteskranker Pinochetist. Er hatte andere offene Verfahren, auch wegen einer Bedrohung der derzeitigen Innenministerin. Es gibt keine Institution, die uns schützt. Seitens der Staatsanwaltschaft herrscht Straflosigkeit, in meinem Fall wie in denen vieler Genoss*innen. Dabei bin ich eine privilegierte Frau, ich bin Anwältin und habe die Mittel, mich zu verteidigen. Viele andere haben die nicht.
Richten sich diese Drohungen vor allem gegen Frauen?
MRL: Tatsächlich waren die Frauen aus dem Verfassungskonvent dieser politischen Gewalt sehr stark ausgesetzt, vor allem über die sozialen Netzwerke. Auch Elisa Loncón, die erste Präsidentin des Verfassungskonvents, wurde bedroht, ihre Adresse in den sozialen Netzwerken veröffentlicht. Das ist der Versuch, uns Frauen aus der öffentlichen Debatte zu verdrängen. Keiner der Männer im Verfassungskonvent wurde mit Vergewaltigung bedroht oder zu Hause belästigt.
Und wie gehen Sie damit um?
MRL: Letztendlich ist das Ziel dieser Drohungen, uns zum Schweigen zu bringen. Wir sollen Angst bekommen, unsere Meinung zu äußern oder Interviews zu geben. Aber ich tue das Gegenteil: Ich habe Anzeige erstattet, mich an die Medien gewandt und den Namen des Mannes veröffentlicht. Das ist auch eine Möglichkeit, sich zu wehren. Und so erreichen die Drohungen ihr Ziel nicht. Denn wir machen von da, wo wir jetzt stehen, keinen Schritt mehr zurück.
Was würde ein Sieg des »Rechazo« bedeuten?
MRL: Die Verfassung ist sehr wichtig. Mit einem Sieg des »Rechazo« bliebe die Verfassung aus Diktaturzeiten in Kraft, Pinochets Verfassung. Es wäre ein sehr großer Rückschritt für uns, für die sozialen Bewegungen und für alles, was wir bis jetzt erreicht haben. Ich bin der Meinung, dass eine Ablehnung der Verfassung auch eine massive Krise der Institutionen in Chile auslösen würde.
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