Ein Kurswechsel, der keiner ist

In Libyen werden Geflüchtete gefoltert und versklavt. Das Außenministerium erkennt die libysche Such- und Rettungszone an

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 4 Min.
Auf dem Weg nach Europa von der libyschen Küstenwache abgefangen: Migrant*innen am Militärischen Marinestützpunkt Tripolis.
Auf dem Weg nach Europa von der libyschen Küstenwache abgefangen: Migrant*innen am Militärischen Marinestützpunkt Tripolis.

Menschlich, feministisch, wertebasiert: So hat sich Grünenpolitikerin Annalena Baerbock in ihrer Anfangszeit als Außenministerin präsentiert. Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP wollte laut Vertrag »mehr Fortschritt wagen«, und zwar erklärtermaßen auch in der Flüchtlingspolitik. »Wir wollen die illegalen Zurückweisungen an den Außengrenzen beenden«, heißt es im Koalitionsvertrag. Umgesetzt wird nun offenbar das Gegenteil. In einer Stellungnahme gegenüber dem WDR-Magazin »Monitor« bezeichnete das Auswärtige Amt weite Teile des Mittelmeers als »Verantwortungsbereich Libyens«. Ausdrücklich sei damit die sogenannte Such- und Rettungszone umfasst, die bis weit vor die europäischen Küsten reicht, hieß es in einer Mitteilung des WDR.

Außenministerin Annalena Baerbock hatte in ihrer Zeit als Oppositionspolitikerin eine Zusammenarbeit der Europäischen Union mit der libyschen Küstenwache scharf kritisiert: »Wer auf Rückweisung auf hoher See setzt, Menschen an die libysche Küstenwache überführt, der bricht mit dem Völkerrecht«, sagte sie damals. Die libysche Küstenwache greift immer wieder Migrant*innen auf, die in Richtung der griechischen Inseln oder Malta unterwegs sind, und bringt sie von dort in libysche Haftlager. Finanziert wird das teilweise auch von der Europäischen Union. Vorgeblich, um Menschenleben zu retten, doch eigentlich ist klar, dass es hier um Abschreckung und Abschottung geht: Zivile Seenotrettungsorganisationen werden nicht nur nicht finanziert, sondern auch aktiv an ihrer Arbeit gehindert, ihre Schiffe werden festgesetzt und Aktivist*innen vor Gericht gebracht. Erst Ende Juni hatte der Bericht einer unabhängigen Untersuchungskommission der UN zu Libyen schwerste Verbrechen an der Menschlichkeit in dem nordafrikanischen Land dokumentiert. Die Autor*innen sammelten Beweise für 27 Haftanstalten, darunter auch geheime und außergesetzliche, in denen Tausende Menschen festgehalten werden. Aktuelle und ehemalige Gefangene berichten von Mord, Verschwindenlassen, Folter, Versklavung, sexueller Gewalt und Vergewaltigungen in den Lagern.

Die Anerkennung von Libyens Kontrolle seiner sogenannten Such- und Rettungszone durch das Auswärtige Amt sei ein Skandal, findet Clara Bünger, fluchtpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag: »Es ist ein Freifahrtschein für das illegale Abfangen von Geflüchteten im Mittelmeer und deren Rückverbringung in menschenverachtende Haftlager«, sagt Bünger dem »nd«. Auch aus der eigenen Fraktion gab es Kritik. »Die Bundesregierung weiß von der dramatischen Situation, für die die libysche Küstenwache verantwortlich ist«, sagt Max Lucks, grüner Bundestagsabgeordneter und Obmann im Ausschuss Menschenrechte. Er erwarte, dass die Kooperation mit der libyschen Küstenwache in bisheriger Form nicht vorangetrieben werde. Auch Grünen-Bundestagsabgeordneter Julian Pahlke, seit 2016 selbst aktiv in der zivilen Seenotrettung, sieht die Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache nicht gegeben. Eine klare Forderung an das Außenministerium bleibt jedoch aus.

Auf Nachfrage des »nd« heißt es aus dem Auswärtigen Amt: »Die Bundesregierung setzt sich für eine europäisch getragene und staatlich koordinierte Seenotrettung im Mittelmeer ein und lehnt Pushbacks ab.« Aktuell gebe es keine deutsche Unterstützung für die libysche Küstenwache. Die Bundesregierung setze sich gegenüber der libyschen Regierung »kontinuierlich für eine menschenwürdige Behandlung von Geflüchteten sowie Migrantinnen und Migranten ein«. Die Bundesregierung hatte Anfang des Jahres die Ausbildung der libyschen Küstenwache aus dem deutschen Mandat zur Beteiligung an der EU-geführten Operation Irini gestrichen. Abgesehen davon beteiligt Deutschland sich weiter an der militärischen Mission, die neben der Flüchtlingsabwehr die Umsetzung einer Sicherheitsratsresolution zum Waffenembargo gegen das Bürgerkriegsland zum Ziel hat.

Oliver Kulikowski von der Menschenrechtsorganisation »Sea Watch« hält das für Augenwischerei: »Die Bundesregierung muss sich entscheiden: Entweder sie setzt sich für Menschenrechte und Flüchtende ein oder sie erkennt eine libysche Rettungszone an und damit systematischen Völkerrechtsbruch im Auftrag der EU«, sagt er zu »nd«. Eine klare Positionierung der Bundesregierung bleibt auch in Bezug auf die Pushbacks durch die griechische Küstenwache aus. Am Donnerstag reiste die Außenministerin nach Griechenland und sagte in Bezug auf die Flüchtlingspolitik: »Die Aufgabe, die Griechenland hier für uns alle trägt, ist riesig und verdient unsere ganze Solidarität.« Erst Anfang Juli hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Griechenland wegen eines Schiffbruchs verurteilt, bei dem elf Menschen starben.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.