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Der Hundertjährige, der sich oft aus dem Fenster lehnte, aber nicht flüchtete
Rechtsanwalt Friedrich Wolff über seine anwaltlichen Pflichten und politischen Überzeugungen
Herr Wolff, Sie wollten eigentlich Mediziner werden, was Ihnen als »Halbjude«, wie es im NS-Jargon hieß, durch die Nazis verwehrt worden ist. Aber warum haben Sie das nach dem Krieg an der Berliner, der späteren Humboldt-Universität aufgenommene Medizinstudium abgebrochen?
Ein Jahrhundertleben, ein Jahrhundertanwalt: Friedrich Wolff, geboren am 30. Juli 1922, hat in der DDR Dissidenten und Bürgerrechtler verteidigt, Kundschafter der Staatssicherheit wie den »Kanzlerspion« Günter Guillaume, aber auch Agenten der CIA und NS-Verbrecher wie Heinz Barth, beteiligt am Massaker im französischen Oradour 1944. Ende 2021 erschien von ihm und Egon Krenz das Buch »Komm mir nicht mit Rechtsstaat« (Edition Ost). An diesem Samstag feiert Friedrich Wolff seinen 100. Geburtstag.
Weil mir alle sagten, ich sollte Jurist werden.
Warum? Weil Sie die Ausstrahlung eines Advokaten aufwiesen?
Wohl eher weil ich in Diskussionen auffiel, gut argumentieren konnte.
Gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Professionen: dem Arzt und dem Anwalt? Nahe am Menschen, der Humanität verpflichtet, Einfühlungsvermögen …
Ick weeß nich. Natürlich erwartet man von den Vertretern beider Berufsstände ein hohes Ethos und Menschlichkeit. Und ihnen wird ein besonderes Vertrauen entgegengebracht, ob gerechtfertigt oder nicht.
Gerade diese beiden Berufsstände scheinen sehr anfällig für obrigkeitsstaatliche oder totalitäre Verführungen und Vereinnahmungen zu sein? Beispiel: die willigen Vollstrecker in der Ärzteschaft und Jurisprudenz zu Zeiten der NS-Diktatur.
Vom Nazi-Regime ließen sich ebenso Lehrer, Historiker, Anthropologen, Ethnologen, Architekten, Physiker, Künstler, Ingenieure etc. einspannen. Alle Menschen sind verführbar, vor allem anfällig, wenn Vorteile locken.
Sie lehnen den Begriff »Unrechtsstaat« hinsichtlich der DDR vehement ab. Womit begründen Sie dies?
Weil er unwissenschaftlich ist. Es gibt auch keine seriösen bundesdeutschen Juristen, die diesen Begriff verwenden würden. Es ist ein Kampfbegriff aus der Politik, eine politische Floskel.
Sie waren nie unkritisch gegenüber gewissen Rechtspraktiken in der DDR, haben bereits als junger Anwalt und Sekretär des Berliner Rechtsanwaltskollegiums Anfang der 50er Jahre gemahnt, dass sich ein Gericht nicht vor den »Karren der Anklage« spannen lassen darf. In einer Zeit, in der es in Osteuropa schlimme Schauprozesse gab. Befürchteten Sie nicht Ungemach für sich, das Ende der beruflichen Karriere, bevor diese richtig begonnen hat?
Nee. Natürlich hat man immer ein bisschen Angst, wenn man sich gegen den Strom wendet. Ganz klar. Egal ob in der DDR oder in der Bundesrepublik. Ich empfand es als meine Pflicht, davor zu warnen, Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu verletzen.
Apropos Pflicht. Sie sind vielfach als Pflichtverteidiger bestellt worden – und dies in spektakulären, politisch brisanten Fällen. Ist das dann nur ein Job, den man leidenschaftslos ausführt?
Na ja, Leidenschaften sollte man vor Gericht zügeln. Und natürlich muss man sich für seinen Mandanten voll einsetzen, ob man von dessen Schuld oder Unschuld überzeugt ist oder nicht, ihn nach bestem Wissen und Gewissen und mit allen Mitteln, die das Gesetz bietet, vertreten. Jeder Angeklagte hat das Recht, verteidigt zu werden.
Sie sind 1960 in der »Strafsache gegen Oberländer wegen Mordes« als Pflichtverteidiger beigeordnet worden. War das für Sie als Sohn eines jüdischen Arztes und Shoah-Überlebender nicht eine unzumutbare Zumutung? Theodor Oberländer, damals Bundesminister für »Vertriebene« im Kabinett von Kanzler Konrad Adenauer, war schon am Hitler-Putsch vom 9. November 1923 beteiligt, sodann an der Vorbereitung des Überfalls auf den »Sender Gleiwitz«, Vorwand des Überfalls Hitlerdeutschlands auf Polen, weiter bei der Aufstellung des berüchtigten Bataillons »Nachtigall« und der Sondereinheit »Bergemann«, die in der Ukraine Massaker an Juden und Polen verübten. Verantwortlich auch für die Massenmorde in Lemberg (Lwiw) im Sommer 1941, darunter Professoren. Wie konnten Sie einen solchen Verbrecher verteidigen?
Das Verfahren gegen Oberländer war Teil der politischen Auseinandersetzung zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Es wurde in Abwesenheit des Angeklagten geführt. Ich hatte keinerlei direkten Kontakt zu ihm. Auf meine Briefe antwortete er nicht. Das macht eine Verteidigung natürlich schwer. Für den gesamten Prozess waren elf Tage angesetzt. Entlastendes für Oberländer zu finden, war so gut wie aussichtslos. Wir brachten deshalb vor, dass das Oberste Gericht der DDR nicht zuständig sei, weil die Taten im Ausland, in der besetzten Sowjetunion, begangen worden sind, und dass der Angeklagte außerdem als Abgeordneter des Bundestages Immunität genoss. Alle unsere Anträge wurden abgelehnt, Oberländer wurde wegen Erschießung von mehreren Tausend Juden und Polen in Abwesenheit zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.
Und dann waren Sie auch noch Pflichtverteidiger von Hans Globke …
Zwei Jahre nach dem Oberländer-Prozess. Er war Staatssekretär im Bundeskanzleramt. Ihm wurde vor allem die Beteiligung an der Ausarbeitung der Nürnberger Rassengesetze von 1935 vorgeworfen – er habe dadurch »maßgeblich an der systematischen Aussonderung und Registrierung der jüdischen Bürger Deutschlands mit dem Ziel ihrer Terrorisierung und physischen Vernichtung mitgewirkt«. Stimmte. Rechtlich stützte sich die Anklage auf Artikel 6 des Londoner Statuts für das Internationale Militärtribunal in Nürnberg 1945/46. Alles akkurat. Auch Globke erhielt lebenslänglich Zuchthaus. Die beiden tangierte das nicht. Die saßen ja in Bonn.
Ironie der Geschichte: Oberländer beantragte nach der »Wende« in der DDR die Kassation seines Urteils von 1960 vor dem Obersten Gericht der DDR und wurde tatsächlich dann, mit 88 Jahren, rehabilitiert.
Sie erhielten 1993 ein Schreiben, in dem Ihnen sein Dank für Ihre Bereitschaft, ihn zu verteidigen, übermittelt wurde. Ist das nicht Zynismus pur?
Ich habe es als Anerkennung meines anwaltlichen Einsatzes angesehen. Man muss sich ja deshalb nicht gleich fraternisieren.
Ich kann es dennoch nicht verstehen, wie Sie – Antifaschist und Kommunist – Nazi-Verbrechern, wenn auch nur als Pflichtverteidiger, beistehen konnten?
Ich weiß, das ist für Laien schwer zu verstehen. Mir wurde einmal nachgerufen: »Wer einen Verbrecher verteidigt, ist selbst ein Verbrecher.«
Lassen Sie mich raten: Das war nicht in den 60ern, sondern in den 90er Jahren.
Ja, als ich Erich Honecker verteidigte.
Auch so ein Kuriosum in ihrem Leben: Nach 1990 haben Sie exponierte Vertreter der gestürzten Partei- und Staatsführung, zu DDR-Zeiten Oppositionelle, Dissidenten und auch politische Gegner verteidigt, 1953 beispielsweise Aufständische des 17. Juni.
Ich habe die Demonstrationen in Berlin hautnah miterlebt. Aus dem Fenster meines Büros in der Rathausstraße sah ich sie vorbeimarschieren und skandieren: »Der Spitzbart muss weg!« Sie meinten Walter Ulbricht. An diesem Tag ahnte ich nicht, dass einer meiner ersten Mandanten darunter sein würde: ein Westberliner Student, als ein »Rädelsführer« ausgemacht. Er versicherte mir, bei den Demonstrationen nur zugesehen zu haben. Seine Mutter hatte mich gebeten, seine Verteidgung zu übernehmen. Ich hatte Lampenfieber, als ich den Freispruch begründete. Mein Mandant wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu sechs Jahren Haft verurteilt und nach Verbüßung der Hälfte der Strafe entlassen.
Bei dieser Verhandlung war auch Justizminister Max Fechner im Gerichtssaal, erinnern Sie sich in Ihrem Buch »Verlorene Prozesse«.
Ja. Und im Gegensatz zu ihm geschah mir, der einen »Rädelsführer« verteidigt hatte, nichts. Er hat nach dem 17. Juni in einem Interview für »Neues Deutschland« erklärt, dass nur Personen, »die sich eines schweren Verbrechens schuldig machten«, bestraft werden würden und es keine Verurteilung »auf bloßen Verdacht hin« geben werde. Daraufhin wurde er als Minister entlassen, aus der Partei ausgeschlossen und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Er hatte aber recht. Die Arbeiter, die damals streikten und auf die Straße gingen, wollten ja nicht mehr und nicht weniger als die Rücknahme der Normerhöhungen. Ihnen ging das zu schnell mit dem Aufbau des Sozialismus. Sie wollten volle Schaufenster wie im Westen.
Wenn Sie Dissidenten und Bürgerrechtler verteidigt haben, konnten Sie sich da Sympathien leisten?
Natürlich, obwohl ich immer eine gewisse Distanz zu wahren versuchte, im Interesse bester Verteidigung. Für Walter Janka, Cheflektor des Aufbau-Verlages, der 1956 mit dem Philosophen Wolfgang Harich und anderen wegen »konterrevolutionärer Fraktionsbildung« in der Partei angeklagt wurde, hatte ich große Sympathien. Auch wenn er, verständlich in seiner Lage, sehr misstrauisch war, jedem gegenüber. Er kämpfte verbissen und kompromisslos um sein Recht. Das verlangte Respekt. Und schließlich: Die Angeklagten wollten den Sozialismus ja nicht beseitigen, sondern attraktiver gestalten.
Auch für Heinz Brandt, der als Jude und Kommunist in Auschwitz und Buchenwald gesessen hatte, nach dem 17. Juni im Zuge der Zaisser-Herrnstadt-Affäre als Sekretär der Berliner SED-Leitung abgesetzt worden war, in den Westen geflüchtet ist und von dort »zurück entführt« wurde. Man warf ihm Spionage für das Ostbüro der SPD vor. Brandt war geständig. Und mich hat amüsiert, wie er die Staatsorgane ausgetrickst hatte, auch wenn es mein Staat war, dem ich nie den Rücken gekehrt hätte. Flucht kam für mich nie in Frage.
Auch Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des »Neuen Deutschland«, und Wilhelm Zaisser, erster Geheimdienstchef der DDR, wurde von Walter Ulbricht, der in ihnen politische Rivalen sah, »Fraktionsbildung« vorgeworfen; beide wurden aus ihren Ämtern entlassen und aus der SED ausgeschlossen. Waren Sie übrigens ab einem bestimmten Zeitpunkt so frei, sich Ihre Mandanten selbst auszusuchen? Wurden Sie gar von Mandanten bestürmt, ihren Fall zu übernehmen?
Na ja, wenn die Mandanten noch »stürmen« konnten, also auf freiem Fuß waren … Die meisten saßen schon in Untersuchungshaft und haben mir geschrieben. Ich habe sie dann im Gefängnis besucht, um Argumente zur Verteidigung zu bekommen.
Und wie war es mit Erich Honecker, Hermann Axen sowie den anderen ZK- und Politbüromitgliedern, die Sie nach 1990 vor bundesdeutschen Gerichten verteidigten?
Gegen Honecker und andere sind schon zu DDR-Zeiten Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, vom damaligen DDR-Generalstaatsanwalt. Im Dezember 1989 rief mich Wolfgang Vogel an …
… bekannt für seine Vermittlung bei Agentenaustausch und Häftlingsfreikauf während des Kalten Krieges zwischen Ost und West.
Ja. Er fragte mich, ob ich den »großen oder den kleinen Erich«, also Honecker oder MfS-Chef Erich Mielke, verteidigen wolle. Ich entschied mich für den »großen« und erhielt auch Honeckers Mandat. Es war eine große Herausforderung, den einstigen ersten Mann im Staate zu verteidigen, der nun als größter Verbrecher im Staate galt, auch bei den eigenen Genossen, die ihm früher nach dem Mund geredet hatten. Das reizte mich, weil es mich wurmte. Ich kannte die Honeckers nicht persönlich und war anfangs befangen. Aber es stellte sich dann, wie bei anderen, eine gewisse Vertrautheit ein. Natürlich konzentrierte ich mich auf die juristischen Sachverhalte und vermied politische Diskussionen.
Waren Sie nicht sauer, dass Honecker und Genossen die »Kiste DDR« vor den Baum gefahren hatten?
Darum ging es nicht vor Gericht, vor allem nicht vor dem bundesdeutschen. Die Verurteilung Honeckers und der anderen ist ungesetzlich gewesen. Es gibt den Rechtsgrundsatz, dass niemand für etwas verurteilt werden kann, was zum Zeitpunkt der Tat nicht als strafwürdig galt. Das wurde in den sogenannten Politbüroprozessen missachtet, sonst hätte man keine Anklage erheben können. Man hat sich mit der Radbruch’schen Formel beholfen, in diesem Fall völlig unzutreffend.
Der deutsche Rechtsphilosoph Gustav Radbruch hat 1946 gemeint, wenn »gesetztes« Recht so »unerträglich ungerecht« ist, sollte im Sinne der Gerechtigkeit entschieden werden. Die bundesdeutsche Justiz verfiel nicht auf die Radbruch’sche Formel, als es notwendig und noch möglich war, Nazi- und Kriegsverbrecher mit der Radbruch’schen Formel ihrer gerechten Strafe zuzuführen?
Würden Sie die Prozesse gegen Eliten der DDR vor bundesdeutschen Gerichten als Schauprozesse bezeichnen?
Das würde ich nicht sagen, obwohl es letztlich auf dasselbe hinausläuft. Die Leute sollten sehen, was das für Verbrecher waren. Sie wurden zur Schau gestellt.
Was war für Sie der erhebendste Moment in Ihrem Leben?
Das Ende des Krieges, die Befreiung vom Faschisms. Es war für meine Mutter und mich ein wunderbarer Moment, wieder frei atmen zu können, als Mensch gleichberechtigt wahrgenommen zu werden. Wir haben den Siegern gedankt und unsere Toten betrauert.
Was war das enttäuschendste Ereignis in Ihrem Leben?
Das Ende der DDR. Obwohl ich schon die Befürchtung hatte, dass sie nicht durchhält.
Was wünscht sich ein Hundertjähriger?
Dass er älter wird.
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