Impfen statt Enthaltsamkeit

Der Schutz vor Affenpocken sollte nicht hauptsächlich auf die Eigenverantwortung abgewälzt werden

  • Jeja Klein
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Leiter der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, hat schwule und bisexuelle Männer mit wechselnden Sexualpartner*innen dazu aufgerufen, die Zahl ihrer sexuellen Kontakte zu reduzieren. Der Hintergrund ist, dass 98 Prozent der Infizierten des sich aktuell global verbreitenden Affenpockenvirus Männer sind, die Sex mit Männern hatten. Sie sollten »sichere Entscheidungen für sich und andere« treffen. Der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Henri P. Kluge, hatte am Dienstag schon eine ähnliche Aufforderung verbreitet. Das möge zwar »eine harte Botschaft sein«, so Kluge, aber Vorsicht könne »Sie und Ihre breitere Gemeinschaft schützen«. Die Ansprachen klingen zwar anders als die homophobiegetränkte öffentliche Kommunikation zur Hochzeit der Aids-Krise, sind aber trotzdem ein Problem.

»Für sich und andere«, für die eigene »breitere Gemeinschaft« auf »sichere Entscheidungen« verwiesen zu sein, das kennen wir in Deutschland in Bezug auf die Corona-Pandemie – der Unterschied ist allerdings, dass es bereits eine fast die gesamte Bevölkerung umfassende Corona-Impfkampagne gab. Gegen die Affenpocken steht zwar schon ein Impfstoff zur Verfügung. Doch die Mengen, die bislang geordert, an die Praxen ausgeliefert und verimpft worden sind, sind lächerlich klein. Eine auf breiter Front geführte Impfkampagne für Risikogruppen ist auch in Deutschland noch nicht angelaufen – und das, obwohl Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) eine Verfügbarkeit des Impfstoffes bereits für den 15. Juni angekündigt hatte. Erst am 13. Juli bekam dann in Berlin, dem deutschen Hotspot der Epidemie, tatsächlich die erste Person ihren Piks. An die Hauptstadt verteilt wurden da vom bisherigen deutschen Kontingent ganze 8000 von 40 000 Impfdosen, viel zu wenig, um gegen die steigenden Infektionszahlen wirklich etwas zu unternehmen – und viel zu spät für den großen Berliner Christopher Street Day, der am 23. Juli stattfand und sich in den Infektionszahlen niederschlagen dürfte. Die Deutsche Aidshilfe schätzt die Risikogruppe auf etwa 500 000 Menschen.

Die Krankheit weist ein erhebliches Risiko der Stigmatisierung und des unfreiwilligen Bekanntwerdens der sexuellen Orientierung auf – und gerade in der queeren Szene wird gerne unterschätzt, wie viele Menschen diese bisher nicht öffentlich gemacht haben. Wenn man Affenpocken bekommt, lässt sich das allerdings nur schwer verstecken. Da wären zum einen die typischen Pocken, die auch im Gesicht auftreten können, zum anderen gibt es die bis zu vier Wochen dauernde vorgeschriebene Quarantäne. Die muss man erst einmal einem Arbeitgeber verklickern. Beides ist unter Umständen schon für schwule und bisexuelle Männer in Deutschland ein Problem, für solche in Ländern mit einer stärkeren Ausgrenzung oder gar Verfolgung von Homosexuellen kann das Risiko kaum unterschätzt werden. Die Deutsche Aidshilfe hat darum gefordert, die Bekämpfung des Infektionsgeschehens massiv zu verstärken – weltweit. Das Ziel kann dabei eigentlich nur die Beendigung der Pandemie sein.

Doch die stigmatisierenden Empfehlungen, schwule und bisexuelle Männer sollten doch einfach etwas an ihrem Sexualverhalten ändern, gefährden genau dieses Ziel. Denn die Verknüpfung der Krankheit mit schwulem Sex sorgt in homophoben Gesellschaften dafür, dass staatliche Bemühungen zum Monitoring und zur Bekämpfung eben nicht als öffentliche Anliegen erfolgen. Ein Beispiel dafür lässt sich an den explodierenden HIV-Fallzahlen in Russland ablesen. Dort soll übrigens die öffentliche Kommunikation über queere Themen noch schärfer kriminalisiert werden.

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