Deutsche Regelung zum Familiennachzug gekippt

Europäischer Gerichtshof rügt die etablierte Praxis der Großen Koalition als rechtswidrig

  • Marina Mai
  • Lesedauer: 4 Min.

Schwere Schlappe für die deutsche Flüchtlingspolitik: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sprach am Montag Kindern ein Recht auf Familiennachzug zu ihren in Deutschland als Asylberechtigte anerkannten Eltern auch dann zu, wenn sie während des Asylverfahrens ihrer Eltern volljährig geworden sind. Das gleiche gilt für den Familiennachzug von Eltern oder Elternteilen zu ihren in Deutschland als Flüchtlinge anerkannten Kindern, auch wenn diese während des Asylverfahrens volljährig geworden sind. Entscheidend sei, dass die Kinder dann minderjährig gewesen seien, als der Asylantrag gestellt worden sei, so der EuGH.

Damit rügten die Luxemburger Richter die jahrelange deutsche Praxis als rechtswidrig, Anträge auf Familiennachzug nicht entgegenzunehmen, sobald die Kinder 18 Jahre alt geworden sind. Dies stehe nicht »mit den Anforderungen im Einklang, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben«, sagte der EuGH. Denn es liege allein in der Hand der deutschen Behörden und nicht in der der betroffenen Familien, wie lange die Bearbeitung eines Asylantrags in Deutschland dauere. Das seien oft Jahre, und Familien büßten für die lange Dauer.

Jetzt könnten durch Flucht zerrissene Familien aufatmen, freut sich Wiebke Judith von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. »Ihr Anspruch auf Familiennachzug besteht weiter, auch wenn ein Kind volljährig wird.« Sie kritisiert aber auch, dass Deutschland diese Praxis nicht bereits 2018 unter der großen Koalition geändert hat. Denn bereits damals hat der EuGH – allerdings für eine Familie in den Niederlanden – das Recht auf Familiennachzug daran festgemacht, ob das Kind minderjährig war, als der Asylantrag gestellt wurde. »Damals hat das Auswärtige Amt argumentiert, die rechtliche Situation im Aufenthaltsrecht sei in Deutschland eine andere als in den Niederlanden, darum müsse Deutschland das Urteil nicht umsetzen«, erinnert Judith an ein lange praktiziertes Unrecht.

Diese Rechtsauffassung habe in den letzten Jahren unzähligen Familien die Möglichkeit genommen, gemeinsam in Deutschland zu leben, auch wenn bei mindestens einem Familienmitglied eine Flüchtlingsanerkennung vorgelegen habe, sagt Judith weiter. »Und das unverschuldet, denn häufig werden die Kinder während der langen Visaverfahren und zum Teil der sich anschließenden Klageverfahren volljährig. Davon betroffene Familien, die ohnehin durch die langen Verfahren litten, wurden obendrein damit bestraft, dass ihnen dann auch noch das Recht auf Familienleben genommen wurde. Diese rechtswidrige Praxis muss nach dem EuGH-Urteil endlich ein Ende finden.«

Verbesserungen überfällig

Pro Asyl kritisiert die Regierungsparteien dafür, dass sie den guten Ankündigungen im Koalitionsvertrag zur Verbesserung des Familiennachzugs für Flüchtlinge bislang keine Taten haben folgen lassen. »Hier muss im Auswärtigen Amt ein Mentalitätswechsel erst noch stattfinden. Unter der Großen Koalition gab es die Mentalität, Familiennachzug zu verhindern. Es muss heißen: Familiennachzug ermöglichen«, sagt Judith.

Man nehme als Beispiel die Visavergabe für Familienangehörige aus Afghanistan und Eritrea: Hier warten Familien oft fünf und mehr Jahre auf den Familiennachzug, weil die deutschen Auslandsvertretungen in den Nachbarstaaten Afghanistans und Eritreas personell unterbesetzt und die Mitarbeiter für die Prüfung der Unterlagen oft nicht qualifiziert sind. Zudem werden von den Familien Dokumente verlangt, die sie praktisch nicht erbringen können. Allein die Wartezeit auf die Möglichkeit, den Antrag auf Familiennachzug zu stellen, dauert rund ein Jahr. Die digitale Antragstellung ist nicht möglich. Der Koalitionsvertrag sollte Verbesserungen schaffen. Geschehen ist im Fall Eritreas nichts und im Fall Afghanistans zu wenig.

Lesen Sie auch den Kommentar »Gericht stärkt Familiennachzug« von Ulrike Wagener.

Man nehme das Beispiel des Familiennachzugs für subsidiär Schutzbedürftige: Hier hatte die große Koalition das Recht auf Familiennachzug zeitweise völlig ausgesetzt und es ab 2018 auf 1000 Fälle pro Monat begrenzt. Die Koalitionsvereinbarung der Ampel sollte das ändern, doch bislang gebe es noch nicht einmal einen konkreten Gesetzentwurf, kritisiert Pro Asyl.
In einem anderen Verfahren sprach der EuGH einem EU-Staat, in dessen Hafen ein Rettungsschiff liegt, das Recht zu, dieses auf die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften zu kontrollieren – allerdings nur, wenn belastbare Anhaltspunkte für eine Gefahr vorliegen. Geklagt hatte die deutsche Seenotrettungsorganisation Sea-Watch gegen Italien, das im Sommer 2020 zwei Rettungsschiffe in Sizilien festgehalten hatte. Hunderte Flüchtlinge waren im Mittelmeer gerettet und ins Land gebracht worden. Die Schiffe wurden dann aber daran gehindert, weitere Menschen zu retten. Begründung: Sie seien nicht dafür ausgerüstet, Hunderte Menschen an Bord zu nehmen. Sea-Watch argumentierte, seine Schiffe seien in Deutschland zertifiziert, es habe also deutsches Recht zu gelten. Die Richter folgten dieser Argumentation. Italien dürfe ein Schiff nicht festhalten, weil es keine italienischen Zeugnisse über die Zulassung habe. Der EuGH forderte die betroffenen Mitgliedsstaaten zur Zusammenarbeit auf.

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