- Kultur
- Typisch Sommer
Dream of Californication
Nie bekommt man seine Nachbarn so unmittelbar mit wie im Sommer – Zeit der offenen Fenster
Wem gehört eigentlich die Luft vor meinem Fenster? Ich liege im Bett, die Decke mit den Füßen weggestrampelt. Es ist heiß. Durch das offene Fenster höre ich meine Nachbarn. Ohne hinauszuschauen, weiß ich, dass Lothar und Mechthild noch fernschauen. Sie sind meine ältesten Nachbarn und bleiben am längsten auf. Diese leisen Geräusche in der Nacht erinnern mich an meine Oma. Wenn ich bei ihr übernachtet habe, hat sie die Tür immer einen Spalt breit offen gelassen. Ich hörte sie in der Küche mit dem Geschirr und danach die italienischen Gameshows im Fernsehen.
Kurz nachdem ich eindöse, wache ich doch wieder auf. Ein lautes Stöhnen über mir. Ich horche. Dann wieder. Eine Frau seufzt laut. Eine andere Stimme keucht. Es klingt so nah, als wären sie bei mir im Zimmer. Ich schaue an die Decke. Sie ist sicher eine sehr nette junge Frau, die Duftkerzen mit Vanillegeruch mag, er ist ein lieber Bengel. Ich weiß es noch nicht, denn sie sind erst kürzlich hergezogen. Nach dem Sommer werde ich sie so gut kennen wie die Francos im Erdgeschoss, deren Tochter Mia so laut schreien kann wie keine andere Fünfjährige, oder den Jungen im Vorderhaus, der gerade entdeckt hat, dass die Red Hot Chilli Peppers existieren. Ich stelle mich ans Fenster und hoffe auf eine kühle Brise. Doch die Luft trägt nur die Geräusche von oben hinunter in meine Wohnung. Warum stöhnen Frauen beim Sex eigentlich mehr als Männer? Ist das sozial konstruiert? Oder biologisch begründet?
Seinen Nachbarn akustisch nahe zu sein, war schon immer ein Zeichen dafür, mit nicht so viel Geld im Ballungsraum zu wohnen. Meine Großeltern, die im Ruhrgebiet der Zechen gearbeitet haben, wussten immer, wer gerade seine Ehefrau mit wem betrog. Und auf welche Kerle ihre Töchter es abgesehen haben. Privatsphäre ist ein Privileg für Menschen mit Geld und dicken Wänden. Aber ich mag es auch so wie es ist. Bei offener Balkontür auf dem Sofa schwitzen und dösen, während von draußen das Tellergeklapper der Nachbarn zu hören ist. Wenn ich auf den Balkon hinausgehe, um eine zu rauchen, bin ich von drei Häuserfronten umgeben. Hier öffnen sich ab 20 Uhr die Fenster und dann lebe ich in einem Mehrgenerationen-Haushalt. Ätschi bätsch, heul doch, hier ist das erste deutsche Fernsehen, Dream of Californication, Ja, ja, Jaaaaaa.
Im Sommer lebt man in Berlin nicht anonym, sondern kollektiv. Aus den ganzen Geräuschen formt sich eine gemeinschaftlich geteilte Schallkammer, die aus meinen Nachbarn echte Menschen macht. Dieser Möglichkeit folgt eine große Verantwortung: »Californication« von den Chilli Peppers auf Repeat ist nicht ohne. Das sieht die kleine Mia scheinbar genauso. Sie hat gerade »Madagaskar 5« gesehen und steht auf dem Balkon und singt »I like to move it«. Es hilft nicht. Ich will ihr beistehen und versuche es mit Micky Krause. Ein mir unbekannter Nachbar sieht die unausgesprochenen Regeln des Schallraums verletzt. Mamaaa, oooooh. Kann ich so nicht sagen, müsste ich nackt sehen, »I like to move it«. Der Kampf um die Lüfte ist eröffnet. Der pensionierte Rollerschrauber Klaus tritt auf den Balkon. Er hat in diesem Häuserblock schon immer für Ruhe sorgen können. Als meine Mutter und meine beiden Brüder zu meinem 30. Geburtstag bei mir waren und gesungen haben, schickte er mir eine Whatsapp, dass er gleich die Polizei ruft. Der Herrscher über die Schallkammer. Micky Krause und ich verziehen uns zurück ins Wohnzimmer. Gegen halb eins nachts liege ich wieder wach und schaue an die Decke. Oh, oooh, ooooh, jaa. Ich pfeife einmal laut und anerkennend und schlafe ein. Gegen die Geräusche der Liebe kommt nicht mal Klaus an.
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