Drittklässler unter Dummheitsverdacht

Kritik an der mangelnden Aussagekraft der Vergleichsarbeiten an Berlins Schulen

  • Rainer Rutz
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Zahlen klingen zunächst alarmierend: Mehr als 35 Prozent der Berliner Drittklässler können so schlecht lesen, dass die Ergebnisse nicht einmal den Mindeststandards genügen. Noch desaströser sieht es auf den ersten Blick in Sachen Rechtschreibkompetenz aus. Hier bleiben sogar über 50 Prozent der Kinder unter den Minimalanforderungen. Das geht aus einer am Dienstag veröffentlichten Antwort der Bildungsverwaltung auf eine Schriftliche Anfrage der CDU-Abgeordneten Katharina Günther-Wünsch hervor.

Die bildungspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus hatte nach den Ergebnissen der »Vera 3« getauften Lernstandserhebung aus dem vergangenen Schuljahr gefragt. Hierbei handelt es sich um standardisierte Tests, die bundesweit in der Jahrgangsstufe 3 eingesetzt werden und sich an den von der Kultusministerkonferenz (KMK) für den Primarbereich vereinbarten Bildungsstandards orientieren. Schon die letzte Erhebung 2019 fiel für Berlins Drittklässler nicht eben berauschend aus. Damals kamen im Bereich »Deutsch – Lesen« 29 Prozent von ihnen nicht über die sogenannte Kompetenzstufe 1 hinaus, lagen also unter den Basisanforderungen.

Zumindest die AfD-Fraktion im Abgeordnetenhaus schlachtete die neuerlichen Zahlen umgehend aus, um die üblichen Skandalisierungs- und Empörungsregister zu ziehen. Die Rede ist vom »vollständigen Systemversagen« und davon, dass jetzt Schluss sein müsse mit »Zeitgeist-Experimenten wie ›jahrgangsübergreifendes Lernen‹ oder ›Schreiben nach Gehör‹«. So weit, so erwartbar.

Im Haus von Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) mahnt man dann auch zur Sachlichkeit. »Die Zahlen stellen uns natürlich nicht zufrieden«, sagt Busses Sprecher Martin Klesmann zu »nd«. Hierbei sei jedoch zum einen zu berücksichtigen, »dass pandemiebedingt Lernlücken entstanden sind«. Zum anderen warnt Klesmann davor, mit Blick auf die Vera-3-Ergebnisse von 2019 vorschnelle Schlüsse zu ziehen: »Die Tests sind nicht so designt, dass man sie vergleichen kann.« In der Tat sind vor drei Jahren etwa die Ortografiekenntnisse überhaupt nicht erhoben worden.

Und noch etwas verzerrt das Bild und nährt unnötig den Dummheitsverdacht: Vera 3 fragt bei Drittklässlern Lernstoff ab, der am Ende der 4. Klasse erreicht werden soll. Ziel sei es, »Stärken und Defizite bei den Schülerleistungen« zu ermitteln, »um daraus Maßnahmen für die Unterrichtsgestaltung und Förderung im darauffolgenden Schuljahr ableiten zu können«, erläutert die Bildungsverwaltung in ihrer Antwort auf die parlamentarische Anfrage.

Die Tests im Allgemeinen und ihre Aussagekraft im Besonderen sind dabei alles andere als unumstritten. »Der Gedanke mag ja richtig sein, dass man ermittelt, wo die Schüler*innen stehen«, sagt etwa Tom Erdmann, der Landeschef der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). »Aber das Instrument Vera ist dysfunktional.« Die »immer nur defizitorientierten« Ergebnispräsentationen brächten weder Schülern noch Lehrkräften etwas, kritisiert Erdmann gegenüber »nd«: »Man muss in die Durchführung der Tests viele Ressourcen investieren, auch an Zeit, um am Ende wenig herauszukriegen. Viele Kolleg*innen wissen doch schließlich auch ohne die Tests, welche Schüler*innen im kommenden Schuljahr welche Förderung brauchen.«

Franziska Brychcy, die Bildungsexpertin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, sieht das ähnlich. Wie die GEW kritisiert auch Die Linke seit langem die Vera-Tests. Die jetzt vorgelegten Ergebnisse könnten niemanden überraschen, sagt Brychcy zu »nd«: »Dass Corona Auswirkungen haben würde, war doch völlig klar.« Das Problem sei aber, dass es sich bei den Vergleichsarbeiten eben nicht um individuelle Lernstandserhebungen handele. »Alles wird einseitig über einen Kamm geschoren. Dass Schüler*innen und Lehrkräfte wahnsinnig viel geleistet haben in der Pandemie, wird hier gar nicht anerkannt.« Der Linke-Politikerin geht es gar nicht darum, dass Lernstandserhebungen generell abgeschafft werden. Nur sollten diese – anders als die Vera-Tests – »punktuell, gezielt und individuell« durchgeführt werden. Dann hätten sie auch einen Mehrwert für die Schülerinnen und Schüler und das pädagogische Personal.

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