Niemand kam zu Hilfe

Tödliche Attacke auf nigerianischen Straßenhändler sorgt in Italien für Entsetzen

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: 4 Min.

Man nennt ihn den »italienischen George Floyd«: den 39-jährigen Nigerianer Alika Ogorchukwu, der am Wochenende getötet wurde. Nicht von einem weißen Polizisten, wie in den USA, sondern von einem 32-jährigen – ebenfalls weißen – Italiener. Aber ebenso wie in Minneapolis kann man den Hergang des brutalen Mordes ziemlich genau rekonstruieren, weil er von zahlreichen Personen, die sich zufällig in der Nähe befanden, gefilmt wurde.

Ogorchukwu, der sich legal in Italien aufhielt und dessen Aufenthaltserlaubnis erst vor wenigen Tagen verlängert worden war, verkaufte im Zentrum der mittelitalienischen Kleinstadt Civitanova Marche Feuerzeuge und bat die Passanten um »einen Euro« – kurz gesagt, er bettelte, um seine Familie, seine Frau und seinen Sohn, über Wasser zu halten.

Unter den Passanten waren auch Filippo Ferlazzo und seine Freundin. Anfangs begründete der Arbeitslose seinen Wutausbruch damit, dass Ogorchukwu seine Freundin »angemacht« und am Arm gezogen habe. Aber die vielen Handyfilmchen, die Umstehende machten, zeigen klar, dass das nicht stimmt. Man sieht deutlich, dass der Nigerianer schon weiter gegangen war, als Ferlazzo ihn von hinten mit seiner Gehhilfe niederschlug, sich dann auf ihn stürzte und mit bloßen Händen erwürgte. Das Ganze dauerte ziemlich genau vier Minuten.

In diesen Minuten filmten zahlreiche Passanten die Szene – ohne aber irgendwie einzugreifen. Man kann sagen, dass sie sich hinter ihren Handys versteckten und tatenlos dabei zusahen, wie ein Mensch ermordet wurde.

Jetzt diskutieren Psychologen und Soziologen darüber, was hinter dieser offensichtlichen Gleichgültigkeit steckt. Sie wurde wenige Stunden nach der Tat erneut sichtbar, als die nigerianische Gemeinschaft von Civitanova Marche spontan auf die Straße ging: Weiße Personen oder gar Vertreter der Administration und Lokalpolitiker sah man kaum.

»Wenn es zwei Italiener gewesen wären, wäre das Ganze anders ausgegangen. Irgendjemand hätte eingegriffen«, sagt Patrick Goubadia, Vertreter der Nigerianer in Italien. Das kann natürlich niemand nachprüfen – aber der Verdacht scheint nicht unbegründet. Und es wäre nicht der erste rassistisch begründete Mord oder Mordversuch in Italien. Nur wenige Kilometer von Civitanova entfernt schoss im Februar 2018 der italienische Neofaschist Luca Traini wahllos auf nichtweiße Einwohner und eine antifaschistische Einrichtung. Dass niemand getötet wurde, war nur Zufall. Am 2. Juni 2018 wurde in Süditalien der schwarze Landarbeiter und Gewerkschaftsaktivist Soumaila Sacko erschossen, während er Wellblech sammelte, um seine Baracke auszubessern. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Wie so häufig haben auch im Fall von Civitanova Marche die Anwälte des Schuldigen sofort eine »rassistische Motivation« ausgeschlossen. Die Polizei nahm Ferlazzo wegen des Verdachts auf vorsätzliche Tötung und Raub fest und sieht keine Anzeichen für eine rassistische Tat. Die Ermittler vermuten eine übertriebene Reaktion des 32-Jährigen, als das Opfer versuchte, ihm und seiner Partnerin etwas zu verkaufen, und danach um eine Spende bat. Es heißt, der Täter sei »psychisch instabil«, wobei es eigentlich offensichtlich ist, dass ein Mann, der einen anderen grundlos erwürgt, psychisch wohl kaum stabil sein kann.

Aboubakar Soumahoro, ein aus der Elfenbeinküste stammender Gewerkschafter, der sich seit vielen Jahren für die Rechte der Landarbeiter und Erntehelfer in den süditalienischen Regionen einsetzt, kommentiert den Mord an Ogorchukwu folgendermaßen: »Einige Parteien stacheln den Hass gegenüber den ›Anderen‹ immer mehr an. Das ist eine große Gefahr, die man Tag für Tag bekämpfen muss. Der wirkliche Antirassismus ist, wenn man die Menschlichkeit des vermeintlich anderen anerkennt. Wenn man hingegen den Tod eines Menschen passiv beobachtet, dann ist das ein Symptom für die Relativierung des unmenschlichen Bösen, das in unserer Gesellschaft immer stärkere Wurzeln schlägt. Wir werden der Ehefrau und dem Sohn des Opfers helfen und uns nicht in die Dynamik der Wahlkampagne hineinziehen lassen.«

In Italien finden in knapp zwei Monaten Neuwahlen zum Parlament statt und fast alle Protagonisten haben sich irgendwie zu dem brutalen Mord an dem Nigerianer geäußert. Zum Beispiel erklärte Matteo Salvini, Vertreter der rechtsextremen Lega, dass er jeden Mord verurteile und eine »exemplarische Strafe« für den Schuldigen fordere. Kein Wort zu den Hintergründen. Ähnlich äußerte sich auch Giorgia Meloni, Vorsitzende der neofaschistisch angehauchten Partei Fratelli d‹Italia, die in den Prognosen derzeit stärkste politische Kraft in Italien ist.

Die Mitte-links-Parteien haben den rassistischen Mord schnell wieder aus den Augen verloren. Abgesehen von den pflichtschuldigen Wortmeldungen hat das Thema zumindest bisher keinen weiteren Eingang in die Wahlkampagnen gefunden.

In wenigen Tagen wird Alika Ogorchukwu zu Grabe getragen werden. Der bekannte Journalist Michele Serra hat Vertreter aller Parteien aufgefordert, sich hinter dem Sarg zu versammeln. So wie es im Augenblick aussieht, wird er wohl enttäuscht werden.

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