- Kommentare
- Soziale Krise
Der Herbst wird heiß
Die Linke muss sich mit konkreten, lebensnahen Antworten auf die soziale Krise ins aktuelle Getümmel stürzen, meint Lorenz Gösta Beutin
Fossilkonzerne wussten seit Jahrzehnten von der Klimakrise. Sie investierten Unsummen, um Zweifel an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu schüren und die Energiewende auszubremsen. Im Angesicht des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine machen Exxon, Shell, RWE und Co. Milliardengewinne. Ihre schmutzige Wette gegen die Zukunft der Menschheit geht auf. Doch Finanzminister Lindner kann nirgends Übergewinne sehen. Stattdessen sollen Verbraucher*innen durch eine Gasumlage an den steigenden Kosten für Energie-Importe beteiligt werden.
Viele Menschen drohen wegen der steigenden Preise für Mieten, Nahrungsmittel und Energie in Armut zu fallen. Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen erzählen Menschen davon, was Armut im Alltag bedeutet: Angst vor dem leeren Kühlschrank oder der kaputten Waschmaschine. Sorge um den nächsten Geburtstag des Kindes und Scham, mit den Freunden nicht für einen Absacker in die Kneipe gehen zu können. Diese Menschen organisieren sich überall in unserem Land, gehen mit ihren Forderungen nach einem höheren Mindestlohn, der Abschaffung von Sanktionen und für Umverteilung auf die Straße.
Lorenz Gösta Beutin ist stellvertretender Vorsitzender der Partei Die Linke.
Innenministerin Nancy Faeser warnt vor radikalisierten Protesten im Herbst, die von rechts missbraucht werden könnten. Die Sicherheitsbehörden seien vorbereitet. Doch statt Law and Order wäre die Bundesregierung gut beraten, Antworten auf reale soziale Verwerfungen zu geben und die Kriegs- und Krisenprofiteure zur Kasse zu bitten. Denn aus den östlichen Bundesländern häufen sich Berichte, dass Rechtsradikale die Chance einer neuen Mobilmachung wittern. Was hat die Linke einer Energiepreis-Pegida entgegenzusetzen?
Bereits in der Coronakrise hat sich die soziale Spaltung zugespitzt. Während kleine Einkommen Verluste hinnehmen mussten, wuchs die Zahl der Reichen und Superreichen. Gleichzeitig schwelte die Klimakrise, sie war bei allen vergangenen Wahlen unter den wichtigsten Themen. Im Gefolge des Ukraine-Kriegs eskalieren die soziale und die Klimakrise. Und der Ampel fällt nur eine perfide Form der Klassenpolitik ein: Nicht Umverteilung und Besteuerung der Profite, keine Effizienzmaßnahmen auch in Wirtschaft und Industrie, sondern Spartipps fürs Duschen oder ein Bonus für Hartz-IV-Bezieher*innen, die sich entscheiden, in ihrer Wohnung zu frieren, damit sie am Ende des Monats Geld für Essen haben.
Gleichzeitig läuft in der Energiepolitik weltweit ein Rollback: Extrem klimaschädliches LNG-Fracking-Gas soll bis mindestens 2043 über feste Terminals nach Deutschland importiert werden. Schwarz-Grün in Schleswig-Holstein will Ölbohrungen im Wattenmeer zulassen. Der Ausstieg aus dem Atomausstieg droht – obwohl Deutschland gerade massiv Strom nach Frankreich liefern muss, wo aus technischen und Klimawandel-Gründen die Hälfte aller Atomkraftwerke stillstehen. Im Senegal soll statt Erneuerbarer Energien eine neue Gasinfrastruktur gebaut werden und in Kolumbien ist geplant, die größte Kohlemine zu erweitern, zulasten der Rechte von Indigenen und Naturschutz. Immerhin: die neue Regierung dort hat angekündigt, dabei nicht mitzuspielen.
Die Linke ist klug beraten, sich weder auf die Seite des russischen noch des deutschen Kapitals zu schlagen. Weder der »neuen« deutschen Energiepolitik nach dem Mund zu reden, noch auf die Idee zu kommen, Putins Spiel mit den Gas-Pipelines mitzumachen. Stattdessen muss sie sich mit konkreten, lebensnahen Antworten auf die soziale Krise ins Getümmel stürzen: Protest gegen die Gasumlage, Einführung einer Übergewinnsteuer, Grundkontingente für den existenziellen Energiebedarf, Erhöhung von Hartz IV, Verlängerung des Neun-Euro-Tickets sowie massive Investitionen in Bus und Bahn und eine gerechte Energiewende mit Turbo-Antrieb. Um das durchzusetzen, braucht es das Bündnis aus sozialen Bewegungen, wie sie sich bei #IchBinArmutsbetroffen oder Initiativen für bezahlbare Mobilität andeuten. Es braucht Gewerkschaften, denen harte Lohnauseinandersetzungen im Herbst bevorstehen, und die Klimabewegung, die im Bündnis zu alter Stärke zurückfinden kann.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.