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In den Bergen der PKK
Im Norden des Irak versuchen die kurdischen Freiheitskämpfer, die politischen Ideen Abdullah Öcalans umzusetzen
Eine enge Bergstraße windet sich in Schlangenlinien hoch in die Berge Kandils. Neben der unbefestigten Fahrbahn erheben sich schroffe Felsen und trockene Hänge. Die Luft ist staubig. Ein großer Bergfluss, der parallel zur Straße fließt, ist ausgetrocknet und nur noch ein Rinnsal. Durch die karge Landschaft gelangt man mitten hinein in das Gebiet der Arbeiterpartei Kurdistans, kurz PKK. Eine riesige Fahne auf einem entfernten Berggipfel und ein Abbild Abdullah Öcalans am Straßenrand lassen daran keine Zweifel. Hinauf geht es in einem Bus. »Das ist die Heimat«, sagt Shain Kazem, der eigentlich anders heißt. Das junge PKK-Mitglied deutet auf die wehende Fahne. »Schon über zehnmal wurde die Skulptur von türkischen Drohnen zerstört«, erzählt er. Im Autoradio läuft kurdische Musik.
Das Kandil-Gebirge liegt im Norden des Iraks, an der Grenze zum Iran, nur knapp 100 Kilometer südlich der türkischen Grenze – in der Autonomen Region Kurdistan. Die höchsten Gipfel recken sich bis zu 3000 Meter in die Höhe. Mit seinen versteckten Tälern und zahlreichen Höhlen gilt das Gebirge als der wichtigste Rückzugsort der PKK. Die kurdische Untergrundorganisation, die von zahlreichen Ländern als terroristische Vereinigung eingestuft wird, kontrolliert hier – zusammen mit ihrer iranischen Teilorganisation, der »Partei für ein freies Leben in Kurdistan« (PJAK) – seit den 1980er Jahren ein Gebiet von rund 50 Quadratkilometern.
Ein Leben in Angst
»Wir haben geschlafen, als die Rakete in unser Haus einschlug«, erzählt Sozam Mushir Jalal. Im Dezember 2007 habe sie durch ein Bombardement ihr linkes Bein verloren, erzählt sie. Anfangs sei es schwierig gewesen. »Meine Familie hat mich immer unterstützt, aber niemand konnte nachempfinden, was ich zu dieser Zeit erlebt habe«, erzählt die heute 42-Jährige. Sie sitzt eingehüllt in ein schwarzes Kopftuch vor einem sandfarbenen Haus. Geboren und aufgewachsen sei sie hier in der Region. Für sie sei es nie eine Option gewesen, die Gegend zu verlassen. »Die Türkei behauptet, sie würde nur die Guerillas in den Bergen bombardieren, aber viele der Opfer der Angriffe sind Zivilist*innen. Wir leben in ständiger Angst«, erzählt Jalal. Ihr Schicksal ist dabei kein Einzelfall. Immer wieder teilen Verletzte oder Angehörige von Getöteten ihre Erlebnisse. Verifizieren lassen sich viele davon nicht.
Vor Ort zu recherchieren ist voller Hürden. Mobiltelefone mitzunehmen ist nicht erlaubt. Zu groß ist die Angst durch Ortungsdienste und Überwachung ausgespäht, lokalisiert und zum erneuten Ziel von Bombardements zu werden. Fotografieren ist auf der Fahrt nach Kandil ebenfalls verboten. Journalist*innen dürfen sich nur in Begleitung von PKK-Kämpfer*innen bewegen.
Die Dörfer der Region liegen in den schmalen Tälern zwischen den Bergen. Oft bestehen sie nur aus ein paar Häusern. Die karge Landschaft wird an einigen Stellen von Feldern und Wiesen unterbrochen. Dort treiben Hirten ihre Tiere vor sich her. »Eigentlich sammeln die Menschen hier Kräuter und bewirtschaften ihre Felder, doch wegen der Drohnen haben mittlerweile viele Angst«, sagt eine Dorfbewohnerin. Die ständige Gefahr eines Angriffs ist auch im Alltag der Menschen präsent. Auf den Straßen kommen einem Mopeds und weiße Pick-ups entgegen, im Hintergrund hört man immer wieder Schüsse – vom Training der Guerilla, wie es die Menschen hier erzählen.
Der weiter währende Konflikt zwischen der Türkei und der kurdischen Befreiungsbewegung hat eine lange Historie. Seit Jahrzehnten kämpfen Kurd*innen gegen Unterdrückung und für Selbstbestimmung. In Nord- und Ostsyrien ist es ihnen gelungen, im Zuge des Kampfes gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) eine Autonomieregion zu errichten, die ebenfalls nach dem Prinzip des Demokratischen Konföderalismus organisiert ist. Doch auch Rojava wird immer wieder angegriffen. In diesem Jahr gab es bereits mehrere Offensiven gegen die kurdischen Gebiete in Nordsyrien und dem Nordirak. Die Türkei begründete die Militäroperation gegen die PKK im April mit dem Schutz vor Terrorangriffen und dem Recht auf Selbstverteidigung. Bei den türkischen Angriffen kommt es nicht nur in Kandil regelmäßig zu zivilen Opfern.
Die »befreite Region«
Kandil ist politisch unabhängig von der Autonomen Region Kurdistan und der irakischen Regierung in Bagdad. Es gilt als »befreite Region« und ist ebenfalls nach dem Prinzip des Demokratischen Konföderalismus organisiert – ein Konzept von Abdullah Öcalan. »Wir wissen von den Geschichten unserer Großeltern, dass immer Männer in hohen Positionen saßen. Die Theorie von Öcalan hat das endlich geändert. Wir wissen jetzt, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind«, erzählt Awaz Ismail, die Bürgermeisterin der Region. Sie teilt sich ihren politischen Posten gleichberechtigt mit einem Mann. Das sieht der Demokratische Konförderalismus bei wichtigen Ämtern so vor. Auch der Bürgermeister Mihemed Hesen ist an diesem Tag anwesend. Hinter den beiden hängt ein großes Transparent mit der Aufschrift »Sarawani Binari Qendil«, was übersetzt »Gemeindegebiet von Kandil« bedeutet.
In Kandil werden Entscheidungen basisdemokratisch und gemeinsam getroffen. »Alle zwei Monate haben wir ein großes Treffen. Dort besprechen wir gemeinsam wichtige Dinge, wie zum Beispiel die Wasserversorgung der Region«, erklärt Mihemed Hesen. »Aber alle Entscheidungen werden dann nochmal mit dem Bewohner*innen der Dörfer abgesprochen. Wir wollen wissen, ob diese Entscheidungen auch gut für sie sind«, fügt Mihemed hinzu. Außerdem schickt jedes der 51 Dörfer der Gebirgsregion einen gewählten Vertreter in einen Regionalrat. Das Gremium entscheidet, wofür das Geld verwendet werden soll, erzählen die beiden Bürgermeister*innen.
»Natürlich haben auch wir immer wieder Probleme, weil wir alle verschiedene Ideen haben«, sagt Awaz Ismail, »aber wir geben nicht auf. Wir reden viel miteinander – und wir kämpfen gegen andere traditionelle Gesellschaften.« Eine sehr große Herausforderung sei die fehlende Gesundheitsversorgung, führt Awaz Ismail aus. »Aktuell gibt es keine Krankenhäuser hier in den Bergen, es gibt nur noch kleine Häuser mit dürftiger Versorgung. Es ist zu gefährlich, Verwundete in umliegende Städte ins Krankenhaus zu bringen«, sagt die Bürgermeisterin. Zu groß sei die Angst vor Inhaftierung jener, die sich aus der Sicherheit der Berge heraus bewegen.
Bei der Autonomen Region Kurdistan handelt es sich um ein anerkanntes autonomes Gebiet im Irak, das ein eigenständiges Parlament und mit den Peschmerga eigene Militäreinheiten unterhält. Das auch als Südkurdistan bezeichnete Gebiet ist sozusagen ein Staat im Staat – und die Regierung nicht sonderlich beliebt bei der kurdischen Freiheitsbewegung. Diese wirft den beiden großen Parteien, der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), Kooperation mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan vor. Im Zuge des Konflikts errichtete die Türkei mit Duldung der kurdischen Autonomieregierung im Irak vor einigen Jahren mehrere Militärstützpunkte in der Grenzregion, die bis zum heutigen Tag bestehen.
»Erdoğan ist ein Kriegsverbrecher. Er ist schuld am Tod meines Sohnes«, erzählt Kafya Hamad Mustaf, während sie auf ihrer Terrasse sitzt. Sie lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Haus an einem der Berghänge Kandils. Laufen fällt der alten Frau schwer, ihr genaues Alter möchte sie nicht verraten. Immerzu hält sie sich an ihrem hellbraunen, hölzernen Gehstock fest. Ihr Sohn sei bei seinen Freunden gewesen, als er starb. »Ich bin froh, dass er nicht alleine war«, sagt sie. Ihre Stimme wirkt kratzig, sie hält inne, dann rollen Tränen über ihre Wangen. »Oft müssen wir das Glas in unseren Fenstern tauschen. Wenn die Bombardierungen zu nah kommen, dann zerbricht es«, erzählt sie vom Alltag. Nach einer Tasse Tee verabschiedet sich Kafya Hamad Mustaf. Sie müsse nun ihre Kräfte schonen und einen Mittagsschlaf machen. Im Gehen bedankt sie sich bei den Kämpfer*innen der PKK.
Verschiedene PKK-Einheiten trainieren im Kandil-Gebirge. Sie verteidigen die Region und ihre Bewohner*innen immer wieder gegen Angriffe des türkischen Staates. Zu einer von Ihnen gehört Binevs Amed. »Die meisten Kurdinnen haben erlebt, wie der türkische Staat ihre Dörfer niederbrannte, Angehörige entführte und auch ermordete«, sagt sie. »An irgendeinem Punkt mussten wir anfangen uns zu wehren – und der sinnvollste Weg des Widerstands ist es, bei der PKK zu sein.«
Binevs Amed sitzt in einem mit Teppichen ausgelegten Raum. Ihr Rücken lehnt an der Wand des Hauses, in dem sie heute schlafen wird. Die Kämpfer*innen bleiben nie lange an einem Ort. Zum einen aus Sicherheitsgründen, zum anderen, um sich vom materiellen Besitz loszusagen. Ameds langes graues Haar hat sie mit einer Klammer hochgesteckt. Vor allem aus feministischen Gründen hat sie sich dem Kampf der kurdischen Revolutionär*innen angeschlossen. »Immer heißt es, dass Frauen nicht kämpfen können. Sie dürfen nicht alleine raus. Es geht immer nur darum, was der Islam ihnen sagt«, erzählt sie. »In der PKK ist das ganz anders. Wir Frauen kämpfen an vorderster Front.« Als sie noch viele Jahre jünger war, entschied sich Binevs Amed einer Einheit der Guerilla beizutreten. Heute trägt sie militärische Verantwortung. Während sie spricht, rauschen immer wieder Stimmen aus ihrem Funkgerät.
Die Gleichstellung von Frauen ist zentraler Aspekt der Ideologie der Befreiungsbewegung. Nicht umsonst ist aktuell immer wieder von zehn Jahren »Frauenrevolution in Rojava« die Rede. Im Kampf gegen den dschihadistischen IS spielten die kurdischen Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) aus Rojava eine wichtige Rolle. Sowohl die kurdischen Gebiete Rojavas als auch die PKK im Nordirak beziehen sich ideologisch auf Abdullah Öcalan. »In unserer Welt ist es wichtig, dass wir Frauen uns vereinigen. Wir sind eins, gegen den Staat. Junge Frauen treiben die Freiheitsbewegung mit an«, erklärt Binevs Amed, die Öcalan nicht oft genug erwähnen kann. Wie lange Amed noch für ihre Überzeugungen kämpfen können wird, ist nicht sicher. »Wenn ich sterbe und wiedergeboren werde, ich würde wieder zur PKK gehen«, sagt sie. Ihr Bruder hat bereits im Kampf sein Leben gelassen.
Weit oben auf einem Berg liegen diejenigen, die diesem Konflikt zum Opfer gefallen sind. Ein großer Torbogen führt zwischen den Bäumen auf den Friedhof für getötete Kämpfer*innen und Aktivist*innen. Die Symbole der PKK und der »Volksverteidigungskräfte« (HPG), dem bewaffneten Arm der PKK, zieren den Torbogen; daneben hängen Fotos von Kämpfer*innen. Neben den Namen ist auf jedem Grabstein auch das Symbol der HPG zu sehen. Die Gräber sind in akkuraten Reihen angelegt, immer in Blickrichtung der Berge. Es ist ein abgeschiedenes Leben, hier in Kandil. Ein Ort, an dem Krieg zum Alltag gehört und der in Europa allzu oft in Vergessenheit gerät. Hier bleibt er sichtbar: In einem der Dörfer der Region zeigen eingestürzte Gebäude und zerstörte Autos noch heute die Gewalt eines Bombenangriffs, der bereits sechs Jahre zurückliegt. Die privaten Gegenstände der zwölf Toten liegen noch heute an derselben Stelle. Eine Gedenkstätte erinnert an sie.
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