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  • Virtuelle Realität

Die ludische Gala des Computers

Die Attraktivität des Spiels beruht auf erwünschten Erlebnissen, die den Umgang mit Unerwartetem und das Hoffen auf Gelingen verbinden

  • Fabian Arlt
  • Lesedauer: 10 Min.
BU: Was fühlt sich besser an? Realität oder virtuelle Realität?
BU: Was fühlt sich besser an? Realität oder virtuelle Realität?

Der Computer hat eine Hochkonjunktur des Spiels ausgelöst, die ludische Gala ist in vollem Gang. In familiären und freundschaftlichen Alltagsgesprächen, in den Massenmedien, an Universitäten (»game studies«) und nicht zuletzt von der Wirtschaft wird das Thema Spiel gehypt. Was macht der Homo sapiens, wenn er nicht als Homo faber oder als Homo oeconomicus aktiv ist, sondern als Homo ludens? Die Attraktivität des Spiels beruht, so die These vorab, auf erwünschten Erlebnissen, die den Umgang mit Unerwartetem und das Hoffen auf Gelingen verbinden.

Für das Rätsel des Spielens werden viele Lösungen vorgeschlagen. Einig sind sich alle darin, dass das Spiel »außerhalb des gewöhnlichen Lebens« (Johan Huizinga, Autor von »Homo ludens«) stattfindet. Offenbar kennt die Gesellschaft neben dem normalen, gewöhnlichen auch ein ungewöhnliches Leben. Ob dieses oder jenes besser ist, darüber wird nachhaltig gestritten. Immerhin kommen bekannte Dichter und Denker wie Friedrich Schiller oder Herbert Marcuse auf die Idee, dass das Leben schöner, ja überhaupt erst ein gutes Leben wäre, würde es spielend zugebracht. Was geschieht im Spiel Ungewöhnliches?

Wer mitmacht, ist freiwillig dabei, und hatte die freie Auswahl, an diesem, jenem oder einem ganz anderen Spiel teilzunehmen. So viel freie Wahl ist der Bevölkerungsmehrheit unter normalen Lebensumständen selbst in hochentwickelten Ländern eher selten vergönnt; außer bei unnötigen Konsumgütern. Es macht einen folgenreichen Unterschied, ob die Handlungssituation Wahlfreiheiten anbietet oder ob sie in erster Linie Schranken vor Augen führt, die dazu zwingen, sich abzufinden und zu arrangieren. Dass Spiele, die selbst ja durchaus ihre Regeln und oft engen Handlungseinschränkungen haben, trotzdem mit einem Freiheitsgefühl verbunden sind, hängt nicht nur, aber auch mit dieser Freiwilligkeit teilzunehmen und den Auswahlmöglichkeiten zusammen.

Wann ein Spiel anfängt und wann es aufhört, ist wichtig zu wissen. Klingt banal, aber diese zeitlichen Grenzen zu missachten kann zu großen Missverständnissen führen, weil so vieles eine andere Bedeutung bekommt, wenn es als Spiel und »nicht ernst« gemeint ist. Häufig, aber nicht zwingend, gibt es ein markiertes Spielfeld. Der »Spielplatz« grenzt sich (auch im Stadtbild) von seiner Umgebung ab. Somit haben wir eine Zeit und einen Raum, die aus freien Stücken genutzt werden, aber wir wissen noch nicht recht, wofür eigentlich.

Die immense Vielfalt der Spielaktivitäten vom Sandburgbauen über Skat bis zum Computerspiel lässt sich charakterisieren als ein unverbindliches »Tun als ob«. Für sich genommen, kommen sowohl Unverbindlichkeit als auch »Tun als ob« ebenso im normalen Leben vor. Dass jemand zwar eine Zusage macht oder eine Verabredung trifft, aber nur eine unverbindliche; auch dass jemand mit Täuschungsabsichten so tut als ob.

Im Spiel jedoch ist stets Zweierlei klar: Nichts, das gesagt und getan wird, soll jenseits des Spielgeschehens Folgen haben und insofern alles unverbindlich sein. In dieser Absolutheit ausgedrückt, erscheint das falsch, mindestens unrealistisch. Aber nur deshalb, weil es kaum noch möglich ist, sich Spiele nicht instrumentalisiert vorzustellen; sich erholen, üben, lernen, experimentieren, Geld gewinnen, Publikum anlocken – irgendein Zweck, der jenseits des Spielens als nützlich erachtet wird, drängt sich schnell auf. Mit dem Spiel in seiner reinen Form haben solche äußerlichen Zwecke nichts zu tun.

Zum anderen bekommt man es mit diesem ludischen »Tun als ob« zu tun. Ein Kuss ist ein Kuss und doch kein Kuss, eine Katze ist eine Katze und doch keine Katze, ein Toter doch kein Toter. Dieses Einverständnis der Spielenden, etwas als gegeben anzunehmen, das real etwas ganz anderes oder überhaupt nicht vorhanden ist, bahnt den Weg in die Fiktionalität. Im Spiel entsteht ein Möglichkeitsraum, der, vorausgesetzt, die Teilnehmer:innen »spielen mit«, für alles offen ist, wozu die Spielenden gedanklich, kommunikativ und operativ fähig sind. Zwar geben »fertige Spiele«, die nur nachgespielt werden, sehr vieles vor, aber es bleibt der entscheidende Punkt: Es sind die Spielerinnen und Spieler selbst, die darüber bestimmen, was sie spielen und wie sie spielen.

Zwischenstand: Freiwillig Teilnehmende und (im Rahmen der Spielregeln) selbstbestimmt Agierende praktizieren in einem offenen Möglichkeitsraum unverbindliches »Tun als ob« – was werden sie tun? Wozu sie Lust haben! Auf die Erlebnisqualität kommt es an. Das Leben zu erleben, passiert allen jederzeit. Wie es zum Erlebnis wird, hat der Soziologe Gerhard Schulze (»Die Erlebnisgesellschaft«) erforscht: »Erlebnisse werden nicht vom Subjekt empfangen, sondern von ihm gemacht. Was von außen kommt, wird erst durch Verarbeitung zum Erlebnis.« Deshalb kann es so unterschiedlich sein, wie die Einzelnen ein und dasselbe Geschehen erleben. Dass die kapitalistische Wirtschaft nicht nur Nahrung, Kleidung und Wohnungen, sondern auch Erlebnisse zu Waren macht und eine Spiele-Industrie schafft, gehört in ein anderes Kapitel.

Ein erwünschtes Erlebnis bildet das Herzstück des Spiels. Damit fällt es unter den Begriff der Unterhaltung, aber nicht in dem geläufigen Sinn des Entertainments, bei dem sich ein Publikum von anderen unterhalten lässt. Spielende sind aktive Teilnehmer, keine Zuschauer. Ihre Aktivitäten drehen sich – und das ist ein großer Unterschied zum gewöhnlichen Leben – um das Unerwartete. Gesellschaftliche Normalität braucht Erwartbarkeit, denn sie gibt Verhaltenssicherheit. Innovations-Gedöns, Change-Predigten, Wandel-Rhetorik lassen leicht vergessen, dass sich der Alltag aus Wiederholungen, Routinen und Gewohnheiten speist. Das macht ihn manchmal langweilig, sorgt aber für Zuverlässigkeit und Gewissheit, auch für Effektivität – wie Robert Taylor und Henry Ford genau wussten.

Das Spiel gewinnt einen großen Teil seines Reizes, seiner emotionalen Anziehungskraft und seiner Spannung aus dem Umgang mit den Unerwarteten, das in tausend Variationen auftritt. Wie die Karten gemischt werden und die Würfel fallen, für welche (Spiel-)Züge die Mitspielenden sich entscheiden, wo der Zufall zuschlagen und Unvorhersehbares eintreten wird – Ungewissheit, Überraschung, Risiko sind immer im Spiel. Die Aufregungen, die damit verbunden sind, lassen sich genießen, weil sich alles unverbindlich und nur im Modus des »Als ob« ereignet. Man kann jedes Risiko eingehen, denn die Möglichkeit »neues Spiel, neues Glück« bleibt bestehen. Kinder, die den Unterschied zwischen Spiel und Normalität noch nicht realisieren, tun sich oft schwer mit Spielen, die in Sieg oder Niederlage münden.

Grundsätzlich scheinen Enttäuschungen und Scheitern der Lust, zu spielen, keinen Abbruch zu tun, im Gegenteil. In seinem Buch »Die Kunst des Scheiterns. Warum wir Videospiele lieben, obwohl wir immer verlieren« zitiert der dänische Familientherapeut Jesper Juul eine Ehefrau: »Es ist leicht zu erkennen, welche Spiele mein Mann am liebsten mag. Wenn er schreit ›Ich hasse es!‹, dann weiß ich, dass er es zu Ende spielen und den zweiten Teil kaufen wird. Wenn er nicht schreit, dann weiß ich, dass er es in einer Stunde weglegen wird.«

Ludisches Scheitern begräbt die Hoffnung auf Gelingen nicht, sondern fördert sie, weil die gewonnenen Erfahrungen die Aussichten für die nächste Runde verbessern. Das Spiel wird getragen von der Hoffnung auf Gelingen, aber problemloses Gelingen bietet keinen Anreiz. Leichtes Spiel zu haben, mag in einer auf Erfolg gepolten gesellschaftlichen Normalität erwünscht sein, Spielerinnen und Spieler können einer Leichtigkeit, die umstandslos zu haben ist, wenig abgewinnen, sie suchen die Herausforderung. Misslingen zu akzeptieren und Gelingen zu erstreben bilden zwei untrennbare Seiten des Spiels.

Dass die Teilnehmer*innen ein Spiel besser oder schlechter beherrschen, dass sich Dramen des Misslingens und Freuden des Gelingens ereignen, dass Verlierer zu bemitleiden oder zu verspotten, dass Sieger zu bejubeln sind, das alles lockt Zuschauer*innen an. Das Erlebnispotenzial des Spiels reicht über die Spielenden hinaus, es kann auch Zuschauer*innen in den Bann ziehen. Weil es nur ein Spiel ist, dürfen alle allen zuschauen; es sei denn, es werden Bezahlschranken errichtet, weil mit der Vorführung von Spielen finanzielle Einnahmen erwirtschaftet werden sollen. Spielregeln und Austragungsweisen von Spielen können explizit auf den Unterhaltungswert (und auf den Tauschwert) für Publikum ausgerichtet werden.

Was prädestiniert die Digitalisierung dafür, dem Spiel – als erwünschtem Erlebnis, das die Risiken des Unerwarteten sucht und auf gutes Gelingen setzt – einen neuen, so auffällig präsenten Stellenwert zu geben? Zunächst: Niemand bezweifelt, dass der Computer für die Kommunikationsentwicklung einen qualitativen Sprung bedeutet. Alle vorherigen Stufen bestehen weiter, das heißt, auch alle ludischen Variationen, die vor dem Computer existierten, bleiben weiterhin möglich. Von der direkten Kommunikation zwischen Anwesenden (z. B. Versteck-, Sing-, Ball-, Rollenspiel) über die Schrift (z. B. Brett-, Rätselspiele), den Buchdruck (z. B. Kartenspiele) bis hin zu den Funkmedien (Hörspiele, Spielfilme) geht im Prinzip nichts verloren. Auch das mit analogen Techniken entwickelte Spielzeug bis hin zur elektrischen Eisenbahn, der sprechenden Puppe und dem ferngesteuerten Auto bleibt erhalten. Was kommt neu hinzu? Die grenzenlose praktische Gelegenheit, weltweit zu spielen, die fantastische Gestaltbarkeit virtueller Welten und die Möglichkeit, sich selbst darin als Handelnden zu erfinden und zu erleben.

Der Computer ist besonders entgegenkommend. Der oft betonte Umstand, dass die Digitalisierung Kommunikation räumlich und zeitlich unabhängig macht, trifft natürlich auch auf das Computerspiel zu. Jetzt kann zum einen, mit dem Smartphone in der Tasche, immer und überall gespielt werden. Und zum anderen gehört der Frust, dass niemand mitspielen will, der Vergangenheit an, erstens weil der Computer ein allzeit bereiter Mitspieler ist und zweitens, weil das Internet auch als ludisches Netzwerk funktioniert und man sich Mitspielende auf dem ganzen Planeten zusammensuchen kann.

Die virtuellen Welten der Computerspiele, bewohnt von den seltsamsten Lebewesen, wecken Assoziationen zu aufwendigen Spielfilmen, und die Spielforschung war zunächst beherrscht von einer Grundsatzdebatte zwischen »Narratologen« und »Ludologen«. Sind Computerspiele besser zu verstehen, wenn man sie als Erzählungen analysiert oder wenn man ihren Spielcharakter fokussiert? Diese Debatte vernachlässigte einen wesentlichen Unterschied:

Der Spielfilm trägt wie das Hör- und das Schauspiel zwar »Spiel« im Namen, reserviert das Spielen aber für Schauspieler:innen. Sie heißen so, weil sie für eine Schau spielen, für ein Publikum, das nicht mitspielen, sondern nur zuschauen und zuhören darf. In fiktionalen Dimensionen nicht nur zu denken, sondern auch zu handeln, ist in diesen Formaten den »Profis« vorbehalten und das meist unter (strenger) Regie. Ob Profis auf der Bühne und im Filmset oder Laien beim Live Action Role Playing (LARP), vor der Digitalisierung ist die Teilnahme an den natürlichen Körper gebunden. In dieser Hinsicht verändert sich Entscheidendes im Online-Spiel.

In der analogen Welt begibt sich eine reale Person in den Handlungszusammenhang eines Spiels und was immer sie in diesem ludischen Kontext macht, es bleibt im Rahmen ihrer Möglichkeiten als reale Person. Übersteigt es ihre Fähigkeiten, benötigt sie (im Film) ein Stunt-Double. Am Computer ist die Person im Spiel gleichsam ihr eigenes Stunt-Double, dem alle Möglichkeiten der virtuellen Welt zur Verfügung stehen. Die üblichen Geschichten über Energydrinks und Pizzen machen deutlich, dass die reale Person nicht gänzlich verschwindet, aber im Erlebnisraum des Online-Spiels »ist« sie ein Akteur, der die virtuellen und ludischen Potenziale in sich vereinigt. Trotz aller sinnlichen Einschränkungen – die am Computer möglichen Erlebnisse haben inzwischen eine technische Qualität, dass sie, wie Studien zeigen, im Gedächtnis teilweise als reale Erlebnisse abgespeichert werden. Man braucht nur (jungen) Leuten zuzuhören, wie sie von ihren Erlebnissen in der Virtual Reality berichten. Die Möglichkeit, sich selbst, jedenfalls den eigenen Avatar, bei sagenhaften Erlebnissen zu beobachten und dieses Erleben spielerisch zu steuern, lässt Erfahrungsräume entstehen, gegen die der Alltag »schlechte Karten« hat.

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