- OXI
- Kunst und Ökonomie
Neue Begehrlichkeiten schaffen
Der Soziologe Michael Hutter über die Durchdringung von Kunst und Ökonomie. Ein ernstes Spiel mit vielen Gesichtern
Wann haben Sie angefangen, über »Ernste Spiele« und Geschichten vom Aufstieg des ästhetischen Kapitalismus nachzudenken?
Michael Hutter ist Ökonom und Soziologe, er war Direktor der Abteilung »Kulturelle Quellen von Neuheit« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und lehrte bis zu seiner Emeritierung zu »Kultur, Wissen und Innovation« am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin.
2015 erschien sein Buch »The Rise of the Joyful Economy« (Routledge) und die weiterentwickelte Version »Ernste Spiele. Geschichten vom Aufstieg des ästhetischen Kapitalismus« im Wilhelm Fink Verlag. Mit ihm sprach Kathrin Gerlof.
Während eines längeren Studienaufenthaltes Mitte der 80er Jahre in Florenz. Ich wurde gefragt, ob ich bei einer Konferenz vielleicht etwas über Kunst als Quelle wirtschaftlichen Wachstums erzählen könne und recherchierte, was dann später im Buch eine der Fallstudien geworden ist: die Geschichte der Zentralperspektive und wie sie sich zum Beispiel auf die Bautätigkeit auswirkte. Zu sehen, wie etwas passiert ist, das von der Absicht her erst mal fern von der Wirtschaft war, dann aber Auswirkungen darauf hatte, fand ich interessant. Es hat mit vielen Umwegen zwanzig Jahre bis zum Buch gedauert. Ich weiß nicht, ob es die richtige Entscheidung war, zu warten, bis ich einen ganzen Sack voll Fallstudien hatte. Parallel dazu haben sich auch mein Wissen und Verständnis von Gesellschaft verändert. Ich bin in Florenz an der European University auf Gunther Teubner gestoßen, der mir Luhmanns Systemtheorie erklärt hat. Und das war für mich als sich gerade habilitierender Ökonom völlig neu und spannend. So wurde Kunst nicht als eine Art Peripherie der Wirtschaft betrachtet, sondern als gleichwertiger Bereich der Gesellschaft dargestellt. Obwohl die beiden Bereiche nach je eigenen Prinzipien funktionieren, können die gar nicht anders, als sich gegenseitig zu penetrieren, zu beeinflussen.
Und so ist die Frage aufgekommen, wie das geht, wenn sie sich eigentlich nichts zu sagen haben?
Ich war schon immer unzufrieden mit dem dürren Systembegriff der Systemtheorie. System ist eigentlich ein Nichtwort. Da hängt irgendwas zusammen. Aber wie und was, bleibt im Dunkeln. So geriet mir der Spielbegriff ins Visier. Der ist aber sehr unscharf, reicht von Huizingas »Homo ludens« bis zur ökonomischen Spieltheorie, die ganz einfache Brettspiele zum Vorbild hat.
Meine Überlegungen waren näher an einer bestimmten Art der Menschen, mit sozialen Zusammenhängen in Spielen umzugehen. Da findet man viele Quellen, von Bourdieu bis Gadamer, aber meistens steht das Spielerische, Unernste im Vordergrund. Ich musste also genauer konstruieren, wie ich den Spielbegriff meine.
Wie meinen Sie ihn?
Wir verständigen uns in unserem Zusammenleben intuitiv sehr schnell darauf, dass wir in einem Spielzusammenhang sind. Dass es also implizite Regeln gibt, auf deren Grundlage ich mit einer anderen Person umgehe. Das können intime Regeln sein, in einer Zweierbeziehung. Es können extrem schwache Regeln sein, wie an einer Bushaltestelle, oder extrem starke, wie in einer Sekte. Spiel schafft Kontext, eine Verbindung zwischen Interaktionen. Das Eigenartige an Spielen ist, dass diejenigen, die nicht im Spiel sind, mit Unverständnis darauf reagieren. Jemand, der Fußballspiele nicht kennt, fragt sich, warum erwachsene Menschen einem Ball hinterherrennen. Ist man nicht Teil des Spiels, findet man es sinnlos. Für die, die drin sind, ist es aber ungeheuer sinnvoll.
So weit das Spontane, Impulsive. Wenn man aber in die Kulturgeschichte geht, dann sieht man, dass es innerhalb von Gesellschaften Zusammenhänge gibt, die nicht so nebenbei gefunden wurden, sondern die für die Lebenden schon da waren. Die sind größer als die jeweils handelnden Personen. Zum Beispiel eine Sprache, in die man hineinwächst. Man kann mitspielen oder es bleiben lassen, aber nicht hingehen und sagen: »Wir spielen das ganz anders.« Luhmann argumentiert, das Besondere an der europäischen Kulturentwicklung sei, dass sich seit der frühen Neuzeit eine Ausdifferenzierung verschiedener Wertsphären ereignet hat. Das hat viel mit der Zerrissenheit Europas zu tun. In China fand eine imperial beherrschte zweitausendjährige Entwicklung statt, in der klar war und ist, wer an der Spitze der Hierarchie spielt. Stattdessen haben sich in Europa Hierarchien dauernd verändert. In dieser Situation entwickelten sich unterschiedliche Funktionsbereiche in der Gesellschaft voneinander weg. Sie bildeten Spielkomplexe, die inzwischen ihren eigenen Regeln folgen und sich abgrenzen gegen die Regeln, die in den anderen Spielkomplexen herrschen.
Im 18. Jahrhundert wurde das schon klar artikuliert, und diese Entwicklung hat viele Freiräume ermöglicht. Weil nicht immer geklärt werden muss: Was sagt der Hierarch? Darf ich das, darf es sein? Es genügt, wenn der Spielzug innerhalb des Spiels akzeptabel ist. Allerdings findet das spannendste Spielgeschehen immer an den Grenzen des Erlaubten statt. Es geht dann darum, wer mit welchem Regelverstoß durchkommt. Das gilt, egal ob es um politischen Umsturz oder kommerzielle Innovation oder künstlerische Revolution geht. Weiterentwicklung bedeutet meistens, dass andere erst mal sagen: Foul!
Die monotone Volkswirtschaftslehre versucht uns ja immer wieder zu erklären, dass es überhaupt nicht spielerisch ist, sondern feststehende Gesetze des Überkonstruktes Markt gibt, die außerhalb unseres Bewusstseins existieren. Wenn Sie als Ökonom diese spielerische Komponente einbringen, dann stellen Sie das doch infrage?
Die Ökonomik versucht seit ihren Anfängen mit aller Macht, als Naturwissenschaft zu gelten. Der Begriff economics ist ja von Jevons als eine Variante von mathematics geprägt worden. Das menschliche, das gesellschaftliche Geschehen wird eingedampft auf diese übermenschlichen, kristallenen Gesetze. Und da findet man plausible Gesetzmäßigkeiten. Wenn die Ernte ausfällt, steigen die Preise für Getreide. Gibt es zu viel von einer Ware, sinken die Preise. Aber diese banale Mechanik operiert ohne eine Vorstellung davon, wie das Spielmedium Geld funktioniert. Dass die Euros, in denen Preise bezahlt werden, Teil eines Währungssystems sind, das auf Kredit und Vertrauen beruht, wird schlicht vorausgesetzt, auch wenn alle wissen, wie fragil dieses Vertrauen ist.
Sie haben drei zeitliche Zäsuren gesetzt, um diese Interpenetration zu erklären, die erste zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Warum war die Zentralperspektive so entscheidend, um darüber zu erzählen, wie sich Ökonomie Kunst einverleibt oder Kunst der Ökonomie andient, und beide Sphären beginnen, sich zu durchdringen?
Die Erfindung der Zentralperspektive war ein wesentlicher Schritt, um die Kunst von der Religion unabhängig zu machen. Davor tauchen die Bilder kontextualisiert auf in goldenen Rahmen, in Altarbildern. Sie wurden nicht als eigenständig wahrgenommen, sondern nur als ein weiteres Element zur höheren Ehre Gottes.
Leon Battista Alberti machte den entscheidenden Vorschlag: »Stellt euch vor, das Bild sei ein Fenster. Und da schaut Ihr durch. Und ich kann euch eine einfache Regel verraten, wie ihr die Illusion erzeugt, dass Punkte in diesem Fenster unterschiedlich weit hinten erscheinen. Wenn ihr dieser Regel folgt, könnt ihr alles darstellen, was man durch Fenster sehen kann.« Plötzlich ergaben sich völlig neue Möglichkeiten. Nicht nur das Jüngste Gericht oder die Mutter Gottes, sondern auch Landschaften, Städte, und Bezüge zwischen Personengruppen finden im Bildraum statt. Und die menschliche Wahrnehmung empfindet Vergnügen daran, fiktive Räume zu entdecken.
Und mit dieser dritten Dimension kommt auch die Begehrlichkeit, das in anderer Form zu besitzen?
Genau. Man schafft so neue Begehrlichkeiten. Es wird etwas darstellbar, was vorher nicht möglich war. Man öffnet dadurch einen neuen Konsumraum. Denn in einer kapitalistisch getriebenen Wirtschaft ist es wichtig, dass das Begehren immer größer ist, als es die gegenwärtigen Mittel erlauben. Mit der neuen Technik ließen sich Gebäude und ganze Straßenzüge darstellen, die noch nie ein Mensch so gesehen hatte. Die Auswirkungen auf die Bautätigkeit in Oberitalien und dann in ganz Europa waren enorm. Aber ich argumentiere auch, dass sich die Kunst die Wirtschaft einverleibt hat. Dazu verwende ich ein berühmtes Bild des Malers Petrus Christus, das einen Goldschmied mit seinen Wertgegenständen gleichberechtigt neben einem königlichen Brautpaar zeigt. Der Goldschmiedkapitalist ist dem Fürsten gleichwertig, und das gilt auch für den Künstler, weil der eine Qualität schafft, deren Wert vergleichbar ist mit politischem oder kommerziellem Wert.
Während also eine Annäherung und auch Einverleibung, Ökonomisierung stattfand, hat sich auch die Möglichkeit der Abgrenzung hin zu etwas Höherem eröffnet.
Richtig. Im Laufe der Jahrhunderte wurde diese Ästhetisierung immer wichtiger. Sie schuf dann wieder neue Möglichkeiten, ökonomische Wertschöpfung zu betreiben, weil man sich darauf einließ, dass symbolische Werte vergleichbar sind mit materiellen Werten.
Gibt es für Sie dann auch beschreibbare Zäsuren, wo das sicher sehr fragile, aber vorhandene Gleichgewicht, die notwendige Abgrenzung gekippt ist zulasten der Kunst? Wenn wir mal die vierte, die digitale Revolution nehmen?
Vermutlich passiert das reihenweise. Die Fälle, die ich herausgepickt habe, sind ungewöhnlich glückliche Ereignisse. Meine Herangehensweise an das Phänomen der gesellschaftlichen Entwicklung sucht nicht nach Durchschnitt. Die Logik ist eher: Es braucht das Zusammenwirken verschiedener Zufälle, dass etwas Unwahrscheinliches, Neues entsteht. Wenn es dann entstanden und wirklich geworden ist, trauen sich andere Ähnliches. Sie kopieren, variieren, eine neue Phase der Evolution ist erreicht. Man findet mehr Fälle des Scheiterns als des Gelingens.
Sie nähern sich in der dritten Phase, der Sie sich zugewendet haben – Warhol sei hier beispielhaft genannt –, einem Prozess, in dem überhaupt nicht mehr klar ist, ob die Künstler:innen den Kapitalismus persiflieren, indem sie sich seiner ökonomischen Möglichkeiten bedienen und serielle Macht entwickeln. Da wird das Spiel doch erst richtig ernst. Weil sich nicht mehr unterscheiden lässt, wer eigentlich der bessere Kapitalist ist. Ich würde sagen: Warhol.
Der Ernst hat damit zu tun, dass wir näher dran sind, wir sehen den Ernst des Spiels genauer. Bei historischen Beispielen fällt es ungeheuer schwer, die emotionale, mentale Situation der Beteiligten zu rekonstruieren. Aber bei Warhol können wir nachempfinden, wie groß die Empörung war, als sich da ein Künstler Bestandteile der Wirtschaft für seine Werke angeeignet hat. Das muss jemand wie Warhol oder aber auch Jeff Koons so hinkriegen, dass er glaubhaft trotzdem als der bessere Künstler gilt. Dafür gibt es kein Rezept. Das versuchen viele, aber ganz wenigen gelingt es überzeugend.
Das habe ich mir als Ihren historischen Optimismus notiert und dahinter die Frage, woher Sie den nehmen. Sie sagen, wenn beide Systeme miteinander spielen, könne dies neue, stabile Systemerrungenschaften mit sich bringen.
Nicht die Systeme spielen, sondern es gibt Spielerinnen und Spieler, die in allen möglichen Wertsystemen spielen. Diese Pluralität ist unvermeidlich fragil, sie muss mit ständiger Kritik und Veränderung zurechtkommen, aber sie hat in unserer Gesellschaft erstaunliche Freiheitsräume ermöglicht. In der Weltgesellschaft sind wir jedoch an einem Punkt, wo andere Imperien diese Entwicklung der Ausdifferenzierung beobachten und deren Herrscher sagen: So nicht! Das chinesische Kaiserreich hat sich in ungeheurer Kontinuität seit vorchristlichen Zeiten entwickelt. Auf den Überfall Ende des 19. Jahrhunderts war es nicht vorbereitet, wurde gedemütigt und ausgeraubt. Aber durch eine neue Kombination von Beamtenstaat und gelenktem Privateigentum ist es binnen weniger Jahrzehnte gelungen, global wirksame politische und kommerzielle Macht aufzubauen. Etwas komplizierter ist die Situation beim Russischen Reich, in dem Gesellschaft ebenfalls mit der Grundregel absoluter politischer Herrschaft gespielt wird. Die Durchsetzungsfähigkeit des europäischen Ausdifferenzierungsspiels ist also nicht garantiert, sie ist sogar störend. Es ist nicht sicher, dass sich dieses Ausdifferenzierungsmodell weiterentwickeln kann. Ich muss zugeben, dass ich vor 2001 noch optimistischer war. Aber ich sehe, dass wir in unserer Gesellschaft weiter damit experimentieren, dauernd Grenzen zu überschreiten und auf diese Weise den Differenzierungsprozess noch ein Stück weitertreiben.
Ich möchte noch mal auf die sogenannte vierte, die digitale Revolution kommen. Was bedeutet sie für die Ästhetisierung des Kapitalismus und die Kapitalisierung der Kunst? Für die Spiele, von denen Sie schreiben? Weltweit bestimmen fünf große Konzerne darüber, wie unsere Bild- und Zeichenwelten aussehen, wie sich unser Geschmack entwickelt, wie wir kommunizieren. Müssten Sie das Buch noch mit einem Kapitel ergänzen, wohin dächten Sie dann?
Zeitgenössisches, also Gegenwartsgeschehen, ist immer diffus. Der Vorteil meiner historischen Beispiele ist ja, dass sich dort der Staub schon gesenkt hat. Man weiß, was ist wichtig geblieben, was war Tagesaufregung. Das ist im Heute nicht der Fall. Ich kann allerdings feststellen, dass ich meine Forschung nicht machen könnte, wenn es nicht das Internet, Suchmaschinen und Datenbanken gäbe. Ich arbeite unter denselben oligopolistischen Produktionsbedingungen, die dazu führen, dass es nur ein paar global führende Auktionshäuser gibt, dass aber inzwischen afrikanische Künstler*innen über ihre Webseiten und Postings in regionalen und globalen Kunstszenen Aufmerksamkeit erregen können, ohne dass sie dafür Galeristen oder Kuratoren brauchen. Da öffnet sich ein weites Feld für ein weiteres Kapitel.
In dieser neuen Epoche werden wir doch trotz dieser wahnsinnigen Flut an Bildern, Dingen, Werken und deren Verbreitung gleichzeitig irgendwie eingekocht. Also es gibt Masse, aber wie finden wir die Klasse? Unsere Offenheit für Ausbrechen aus Normen wird uns ausgetrieben.
Ist das wirklich so? Und wer ist mit »wir« gemeint? Was mich selbst angeht, so erlebe ich die Flut eher als eine Flut der Möglichkeiten, in der ich ständig Neues entdecke. Ich glaube, dass die Oligopolsituation kaum vermeidbar ist, denn die Digitalisierung führt aufgrund ihrer Netzwerkstruktur dazu, dass sich Größenvorteile stärker auswirken als das bei der alten, maschinellen Produktion der Fall war. Und gleichzeitig ist bei Informationsgütern der Wechsel der dominanten Anbieter schneller möglich als bei materiellen Produkten und Infrastrukturen. Ein Eisenbahnnetz ist starr und reparaturanfällig. Aber was durchs Breitband fließt, ist sehr schnell veränderbar.
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