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- Fußball-WM 2022 in Katar
Kafala im Geheimen
Die Menschenrechtslage in Katar bleibt auch 100 Tage vor der Fußball-WM kritisch
Die Bauarbeiten für die acht Stadien sind längst abgeschlossen. Die modernen Metrolinien in der Hauptstadt Doha sind seit Jahren in Betrieb. Und im Geschäftsbezirk »West Bay« eröffnen Hotels, Einkaufszentren und Firmenzentralen. Dieses Wachstum wäre ohne die Fußballweltmeisterschaft der Männer, die in genau 100 Tagen beginnen soll, undenkbar gewesen. Doch es hatte auch einen hohen Preis: viele ausgebeutete, teils sogar auf Baustellen im Land gestorbene Arbeiter*innen. Darüber wird seit langer Zeit debattiert, doch eine entscheidende Frage ist: Hat der internationale Druck seit der WM-Vergabe vor zwölf Jahren den Alltag der Arbeitsmigrant*innen in Katar erleichtert? »Es ist ein wichtiger Prozess eingeleitet worden«, sagt Dietmar Schäfers, Vizepräsident der Bau- und Holzarbeiterinternationalen (BHI). »Auf den WM-Baustellen hat sich einiges verbessert. Aber dort, wo die Öffentlichkeit nicht so genau hinsieht, ist noch viel zu tun.«
Expert*innen wie Schäfers sagen, dass besonders in den ersten Jahren nach der WM-Vergabe wichtige Zeit für Reformen verloren gegangen sei. Die katarische Erbmonarchie duldet keine unabhängigen Medien, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGO). Lange konzentrierten sich internationale Menschenrechtsorganisationen auf die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi, dann auf die Fußball-WM 2018 in Russland. Dennoch: Mit Kampagnen wie »Red Card for Fifa« richteten Gewerkschaftsbündnisse wie die IG Bau ihren Fokus allmählich auf Katar. Arbeitsorganisationen wie die International Labour Organization (ILO) reichten Beschwerden gegen Katar ein. Berichte europäischer Medien sowie von Amnesty International und der wachsende Druck von Fans zwangen Sponsoren mit der Zeit zu kritischeren Stellungnahmen mit Blick auf die WM 2022.
Im Zentrum der Kritik stand das sogenannte Kafala-System, das in etlichen Staaten der Golfregion praktiziert wird. Als Bedingung für ihre Einreise erhielten die vorwiegend aus Südasien stammenden Arbeiter*innen Bürgen, die ihre Reisepässe einbehalten, ihre Ausreise erschweren und einen Jobwechsel verhindern konnten – offiziell zur Bekämpfung von Kriminalität, denn die Herkunftsländer haben meist keine Auslieferungsabkommen mit Katar. »Bereits 2015 hat die katarische Regierung behauptet, dass das Kafala-System abgeschafft worden sei«, sagt die Aktivistin Binda Pandey, die sich für die Rechte nepalesischer Arbeiter*innen in Katar einsetzt. »Tatsächlich wurden viele neue Gesetze auf den Weg gebracht, aber häufig mangelt es an Umsetzung und Kontrolle.«
In den vergangenen sechs Jahren hat das katarische Arbeitsministerium Richtlinien festgelegt, die europäischen Standards zumindest auf dem Papier ähneln, etwa für Arbeitszeiten, Ruhephasen und Beschwerdemöglichkeiten. »Viele Arbeiter trauen sich aber nicht, gegen ihren Arbeitgeber juristisch vorzugehen«, sagt Pandey. »Sie haben Angst, dass sie ausgewiesen werden und gar kein Geld mehr verdienen.« In Nepal sind fast 60 Prozent aller Haushalte von Arbeitsmigration abhängig. Geldeingänge aus dem Ausland machen fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus. Allein in Katar arbeiten rund 350 000 Nepales*innen.
Viele Arbeitgeber, die häufig eine familiäre Nähe zum Herrscherhaus haben, fühlen sich offenbar unantastbar. Und so dokumentieren NGOs wie Amnesty und Human Rights Watch zahlreiche Verstöße gegen die neuen Gesetze. Vielfach werden Reisepässe einbehalten und zugesicherte Löhne nicht ausgezahlt. Ebenso bedrohen Arbeitgeber ihre Angestellten und hindern sie an der Wahrnehmung von Gerichtsterminen. Noch immer verlangen Rekrutierungsagenturen von den Arbeiter*innen zum Teil horrende Vermittlungsgebühren, damit diese überhaupt eine Anstellung finden. Viele von diesen leben dann in streng überwachten Unterkünften.
Inzwischen existieren in Katar Streitschlichtungsausschüsse, die zwischen Arbeitgebern und Arbeiter*innen vermitteln sollen. Die ILO ist mit einem Büro in Doha vertreten, auch Gewerkschaftsbünde sind für Inspektionen vor Ort, oftmals kommen sie allerdings nur mit Vorankündigung. Immerhin sind das Bedingungen, die Nachbarstaaten wie Saudi-Arabien immer noch nicht zulassen. Für Katar sind genaue Zahlen kaum überprüfbar, aber inzwischen sollen mehr als 20 000 Arbeiter*innen ihre ausgebliebenen Löhne erfolgreich eingeklagt haben. Im Land leben aber rund 2,5 Millionen Migrant*innen, das sind 90 Prozent der Gesamtbevölkerung Katars. »Die Ressourcen sind noch zu gering«, sagt Lisa Salza von Amnesty International in der Schweiz. »Die Beschwerdestellen in Katar können die Klagen nicht in angemessener Zeit bearbeiten.«
Erkenntnisse wie diese lassen erahnen, dass sich die Lage kaum verbessert hat. Daher fordern Gewerkschaften, Fangruppen und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International vom Fußballweltverband Fifa ein Entschädigungsprogramm für Arbeitsmigrant*innen. Und auch für Hinterbliebene wie die von Jaleshwar Prasad, einem Inder, der 2016 beim Bau des al-Bayt-Stadions in al-Chaur starb, in dem eines Beschlusses vom Donnerstag zufolge nun schon am 20. November das WM-Eröffnungsspiel zwischen Katar und Ecuador ausgetragen werden soll. Die Forderung lautet: Als einflussreichste Institution im Fußball soll die Fifa mindestens 440 Millionen Dollar bereitstellen, das entspräche der Summe des gesamten WM-Preisgelds.
Es wird wohl noch Jahre dauern, bis sich der tatsächliche Einfluss der Fußball-WM für Staat und Gesellschaft in Katar seriös beurteilen lässt. Die Debatte hat in jedem Fall die Sportindustrie verändert. Anfang Juni nahm das deutsche Fußballnationalteam an einer Informationsveranstaltung mit kritischen Aktivist*innen und NGOs teil – vor zehn Jahren unvorstellbar. Etliche Gastgeberstädte der Fußballeuropameisterschaft 2024 in Deutschland arbeiten seit der Bewerbungsphase für ein Nachhaltigkeitskonzept mit Menschenrechtsorganisationen zusammen. Auch Austragungsorte der WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko gehen in diese Richtung.
»Die Diskussion um Katar wird hoffentlich dazu führen, dass Sportverbände die Vergabe von Großereignissen frühzeitig an Bedingungen knüpfen«, sagt Jonas Burgheim, Mitgründer des Zentrums für Menschenrechte und Sport. »Aber dabei darf es nicht bleiben. Profiklubs sollten auch auf die Produktionsbedingungen ihrer Sponsoren und Trikothersteller schauen.«
Die Fifa hat ein Menschenrechtskonzept erarbeitet. Trotzdem verlegte sie ihre Klub-WM 2021 aus dem coronageplagten Japan kurzerhand in die Vereinigten Arabischen Emirate, die in der Rangliste der Pressefreiheit von der Organisation Reporter ohne Grenzen noch hinter Katar platziert sind. Am Persischen Golf wird der WM-Gastgeber von seinen Nachbarn kritisch beäugt. Die Herrscherhäuser in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten fürchten, dass sie durch die katarischen Reformen international in Zugzwang geraten. »Es gibt auch konservative Kräfte in Katar, die Reformen gern zurücknehmen würden«, sagt der Gewerkschafter Dietmar Schäfers. Sollten diese Kräfte ihr Ziel erreichen, dann wäre das wohl erst nach der WM der Fall, wenn die Aufmerksamkeit woanders liegt.
In den verbleibenden Wochen bis zur WM werden zwar erst einmal weitere Bücher und Dokumentationen zur Menschenrechtslage am Golf erscheinen. Doch die Geopolitik hat sich bereits geändert: Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bemühen sich westliche Demokratien wie Deutschland um Gaslieferungen aus Doha. Die Rechte dortiger Arbeiter*innen waren dabei plötzlich nicht mehr ganz so wichtig.
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