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Wird Geschlecht jetzt abgeschafft?
Jeja nervt: Was ist der Mensch und was ist ein Geschlecht?
Die Bundesregierung hat sich auf die Einführung eines Selbstbestimmungsgesetzes geeinigt. Doch statt das Vorhaben einfach umzusetzen, wurden am 30. Juni sogenannte Eckpunkte für eine gesellschaftliche Debatte vorgestellt. Sie wird allerdings bereits mindestens seit Anfang 2021 verschärft geführt – zumeist in Form von Hasskampagnen, des Verbreitens von Fehlinformationen oder der medialen Überrepräsentierung derjenigen, die ihre Transition rückgängig gemacht haben. In der »Taz« schrieb etwa Jan Feddersen, der für seine Formulierungen, die die Existenz transgeschlechtlicher Menschen implizit leugnen, berüchtigt ist, über diese sogenannte Debatte: »Der weitere Streit zur Sache führt zu nichts mehr, die Argumente sind in allen Zeitungen, TV- und Radiosendungen ausgetauscht, besser: zur Kenntnis genommen worden. Trans* im geschlechtlichen Sinne ist den einen eine Befreiung, alles wird flüssig, die einstmals fixen Kategorien von ›männlich‹ und ›weiblich‹ seien hinfällig, ungültig, historisch überlebt, denn ein jeder Mensch verkörpere ein eigenes Geschlecht.«
Diese Beschreibung ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Nicht nur leugnet sie, dass die Kategorien »männlich« und »weiblich« schon vor dem Auftreten des Feminismus alles andere als fix waren, zumal in unterschiedlichen Kulturen mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen. Man denke nur daran, dass in Europa einst Blau die Farbe der Mädchen, Rot hingegen die der Jungs war. Aber: Wenn Feddersen die Argumente der Gegenseite wenigstens zur Kenntnis genommen haben will, sollte er in der Lage sein, sie wiederzugeben. Denn die Idee, dass Geschlechterkategorien oder Geschlechter hinfällig seien, wird von niemandem vertreten – erst Recht nicht von transgeschlechtlichen Personen, für die das, was als männlich und weiblich gilt, ja gerade alles andere als unbedeutend ist. Wegen der Diskrepanz zu ihrer körperlichen Situation ist es für sie von existentieller Bedeutung.
Die andere Seite beharre darauf, so Feddersen weiter, dass es »zwei biologische Geschlechter gibt«. Immerhin spreche »wissenschaftlich« »viel« dafür. Doch er verwechselt hier bewusst Inter- und Transgeschlechtlichkeit. Dass sich einzelne Menschen schon von Geburt an nicht erkennbar einem von zwei biologischen Geschlechtern zuordnen lassen, ist lange belegt. Naturwissenschaftlich Geschulte mögen einwenden, dass es bei der Spezies Mensch doch auf die Fortpflanzungsfunktion ankomme, die eben auf die sexuelle Kombination zweier körperlicher Sets an Merkmalen angewiesen sei. Gerade das aber wird ebenfalls von niemandem bestritten, der bei Verstand ist.
Nur ist bereits die Diskussion darüber, was überhaupt unter dem »Menschen« zu verstehen ist, seit Anbeginn westlicher Denktradition dokumentiert, etwa in Platons Ideenlehre. Denn zwischen den empirischen Gegenständen – den einzelnen Individuen, die auf der Erde wandeln – und ihrer Erfassung in Begriffen klafft ein kaum zu überwindender Abgrund. Einen weiteren Höhepunkt fand diese Diskussion im Universalienstreit der Philosophie des europäischen Mittelalters. Sie hält bis heute an. Auch das, was wir unter einem Menschen begreifen, ist also alles andere als durch einfache biologische Tatsachen begründet. Ganz ohne Trans-Debatte.
Der alte Marx etwa sieht den Menschen wesentlich durch Stoffwechselprozesse mit seiner natürlichen Lebensumwelt definiert, deren Zweck er in der Arbeit frei bestimmt. Weder der Bauplan eines Impfstoffs noch der eines Herzschrittmachers noch der Stadtplan von Berlin wird jemals in der DNA-Forschung wiederentdeckt werden. Und doch wird niemand die intime Zugehörigkeit dieser Dinge zur menschlichen Spezies leugnen. Wieso also sollte die biologische Verwurzelung der Menschen ein entscheidendes Argument in einer Auseinandersetzung um die Wahrnehmung von und den Umgang mit geschlechtlichen Minderheiten sein? Als Menschheit schreiten wir in der Diskussion um die Bedeutung von »Geschlecht« voran. Das aber ist alles andere als seine Abschaffung.
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