Schlüsselwort 24

Was kommt nach dem 31. August? Für viele Drittstaatsangehörige, die aus der Ukraine geflohen sind, ist das noch nicht klar

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 6 Min.
Ende Februar an einem Bahnhof in Polen: Für viele Drittstaatsangehörige ist die Suche nach einem sicheren Ort bis heute nicht vorbei.
Ende Februar an einem Bahnhof in Polen: Für viele Drittstaatsangehörige ist die Suche nach einem sicheren Ort bis heute nicht vorbei.

Eric hat sein Grundstück in Nigeria verkauft, um in die Ukraine auszuwandern. Im Oktober 2021 begann der 44-Jährige sein Masterstudium in Business Administration an der Universität Dnipro und betrieb nebenher einen kleinen Online-Shop, um seine Frau und ihre drei gemeinsamen Kinder im Alter von zwei, sieben und neun Jahren in Nigeria zu ernähren. Im Februar startete Wladimir Putin den Angriff auf die Ukraine. Eric floh aus Dnipro, der viertgrößten Stadt des Landes, und aus der Region, die an die sogenannte Volksrepublik Donezk im Osten des Landes grenzt. Sein Name wurde zu seinem Schutz von der Redaktion geändert. »In Nigeria sehe ich für mich keine Zukunft«, erzählt er im Gespräch mit »nd.DieWoche«. Die dortigen Universitäten sind seit Februar im Streik, ein Ende ist nicht in Sicht. In seiner Heimatregion Imo finden seit einem Jahr immer wieder gewalttätige Übergriffe durch bewaffnete Banden statt. Am 12. März erreicht er nach kurzen Zwischenstopps in Berlin und Aachen schließlich Jena. Seine Hoffnung: Hier weiter studieren und arbeiten.

Diese Hoffnung hatten viele Flüchtende aus der Ukraine. Für einen großen Teil von ihnen ist das unbürokratisch möglich. Dank der Ausnahmeregelung nach der EU-Richtlinie für vorübergehenden Schutz können ukrainische Staatsangehörige eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre sowie Zugang zu Studium, Arbeit, Sozialleistungen und Gesundheitsversorgung erhalten. Unter bestimmten Bedingungen profitieren auch Drittstaatsangehörige davon. Allerdings: »Nur eine Minderheit dieser Gruppe fällt unter diesen Paragraf 24«, sagt Juliane Gebel zu »nd.DieWoche«. Sie ist bei »BIPOC Ukraine & Friends Germany« aktiv, ein Bündnis, das Schwarze, Indigene und Personen of Color unterstützt, die vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflohen sind, darunter auch Roma und Sinti.

Ein großer Teil dieser Gruppe wird in Deutschland nur geduldet, eine Pflicht zu Visa und Aufenthaltstitel entfällt. Doch diese Ausnahmeregelung endet am 31. August. Wie es danach für all jene weitergehen wird, die mit einem befristeten Aufenthalt in der Ukraine studiert oder gearbeitet haben, ist bis heute, zwei Wochen vor dem Ablauf der Frist, nicht geklärt. Es droht die Illegalisierung. Für Menschen, die ab dem 1. September neu einreisen, gilt eine Übergangsfrist von drei Monaten. Insgesamt wurden in Deutschland bis Mitte Juli rund 24 500 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine mit anderer Staatsangehörigkeit registriert. Bei der Zahl ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, die Registrierung ist für die Geflüchteten immer auch mit einem Risiko verbunden.

Auch Eric hat keine Ahnung, wie es für ihn weitergehen soll. Er arbeitet derzeit für den Onlinekonzern Amazon mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag. Erhält er nach dem 31. August keine Aufenthaltserlaubnis oder eine weitere Verlängerung der Aussetzung der Aufenthaltspflicht, verliert er seine Arbeit und seine Wohnung. »Zweimal habe ich an die Ausländerbehörde geschrieben und keine Antwort bekommen«, erzählt er bei einem Telefongespräch Mitte August. Eric hat eine freundliche Stimme, doch je länger er von seiner Situation erzählt, desto verzweifelter klingt er: »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Warum können sie uns nicht behandeln wie ukrainische Staatsangehörige?«, sagt er. Auf Nachfrage von »nd.DieWoche« erklärt ein Pressesprecher der Stadt Jena, in den vergangenen Tagen seien an die betroffenen Personen Fiktionsbescheinigungen mit der Gültigkeit von sechs Monaten rausgeschickt worden. »Grundsätzlich können die betroffenen Personen einen Antrag auf Schutz nach Paragraf 24 Aufenthaltsgesetz oder einen Asylantrag stellen«, heißt es weiter. In Erics Fall wäre wohl beides aussichtslos. Eine Fiktionsbescheinigung ist eine Art vorläufiges Aufenthaltsrecht bis zur Entscheidung über einen Antrag.

Im Moment beraten die Bundesländer, wie es weitergehen soll. In Berlin wird am kommenden Dienstag eine Entscheidung erwartet. Doch: »Wir brauchen eine Veränderung der rechtlichen Lage auf Bundesebene. Im Moment wird die Ungleichbehandlung gesetzlich verankert«, sagt Gebel. Am Donnerstag hat sich ein Bündnis verschiedener Hilfsorganisationen mit einer Petition an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) gewendet: »Stellen Sie sicher, dass mit Paragraf 24 allen aus der Ukraine Geflüchteten Schutz geboten und eine Perspektive für die Zukunft gegeben wird, auch Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen!«, heißt es dort. Arbeitet das Bundesinnenministerium an einer Lösung, wie es für Drittstaatsangehörige aus der Ukraine nach dem 31. August weitergehen soll? Das Ministerium ließ eine Nachfrage von »nd.DieWoche« bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Im Moment ist es dem Zufall überlassen, wie die Betroffenen behandelt werden. Wer in Berlin, Leipzig, Bremen oder Hamburg landet, hat noch Glück, weil die Behörden hier großzügig entscheiden. In anderen Bundesländern wie Bayern oder Baden-Württemberg seien die Drittstaatsangehörigen häufig zwar geduldet gewesen, hätten aber keine Arbeitserlaubnis erhalten. Ed Greve, politischer Referent vom Migrationsrat Berlin, erzählt, dass sich schon Ende Juli eine Person aus Nordrhein-Westfalen an ihn gewandt habe, mit einer Grenzübertrittsbescheinigung zum 8. August – eine Aufforderung zur Ausreise. Auch BIPOC Ukraine & Friends Germany bekommt immer wieder Anfragen aus ganz Deutschland: »Wir haben uns als Berliner Initiative gegründet und plötzlich verbringen wir schlaflose Nächte mit Fällen aus München, die sich verzweifelt an uns wenden«, erzählt Gebel.

Doch nicht nur die deutschen Behörden seien ein Problem. Alexander Gorski ist Anwalt für Straf- und Migrationsrecht. Er hat bislang rund 40 Geflüchtete aus der Ukraine vertreten, ukrainische und andere Staatsangehörige, und Tausende beraten. »Auch die ukrainische Botschaft lässt meine Klienten im Stich«, sagt er. Sie sei keine Hilfe, wenn es darum gehe, Dokumente zu besorgen. Er nennt ein Beispiel: »Da geht es um ein Baby, das in der Ukraine geboren ist und damit Anspruch auf eine Staatsangehörigkeit hätte. Als Familienanghörige hätten die Eltern damit in Deutschland Anspruch auf einen Aufenthalt nach Paragraf 24. Doch die Eltern haben nur eine medizinische, keine rechtliche Geburtsurkunde.« Die Botschaft habe der Familie die Papiere nicht ausgestellt, sondern sie aufgefordert, in die Ukraine zu reisen, um sie zu holen. Die ukrainische Botschaft in Berlin hat sich auf Nachfrage von »nd.DieWoche« bis Redaktionsschluss nicht dazu geäußert.

Immer wieder fällt in den Gesprächen mit Geflüchtetenaktivist*innen das Schlüsselwort 24. Eine andere Möglichkeit wäre ein Aufenthalt aus humanitären Gründen, sagt Greve: »Es gibt Lösungen und wenn die Regierung keine findet, dann liegt es daran, dass sie es nicht will.« Eric hat bis jetzt keine Fiktionsbescheinigung von der Stadt Jena erhalten. Amazon hat ihn erneut um die Einsendung seiner Papiere gebeten. Er hat Angst, seinen Job zu verlieren.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!