Flucht nach vorne

Die Klimabewegung hat beim Protest in Hamburg einen ungewohnt schweren Stand, meint Lasse Thiele

  • Lasse Thiele
  • Lesedauer: 3 Min.

In diesen Tagen kommt die Klimagerechtigkeitsbewegung beim »System Change Camp« in Hamburg zusammen, wo schon 2008 das erste Klimacamp in Deutschland stattfand. Diskussionen, Demos und Blockadeaktionen stehen jetzt an. Im Moment ihrer größten Zusammenkunft seit Pandemiebeginn findet sich die Bewegung im Wirbelwind der Weltpolitik.

Das Camp steht nicht zufällig im Norden: Entlang der Küsten entstehen als Reaktion auf den Krieg gerade die Fundamente einer neuen deutschen Energiepolitik. Gemeint sind leider keine Windparks, sondern Terminals für Importe von Flüssigerdgas (LNG). Diese zuvor totgeglaubten Investitionsprojekte erhalten plötzlich die volle Unterstützung des grünen Wirtschaftsministeriums. Ein Klimagerechtigkeits-Albtraum: enorm klimaschädlich, naturzerstörerisch und mit Menschenrechtsverletzungen in den Produktionsregionen einhergehend. Zu allem Überfluss lässt Deutschland durch seine Kaufkraft am Weltmarkt lieber ärmere Länder Gas sparen, in denen dadurch lebensnotwendige Infrastrukturen gefährdet werden.

Während sich die Gasindustrie in der politischen Hektik der Energiekrise über unverhoffte Langzeitdeals freut, steht die Klimabewegung vor einer unglaublich schwierigen Kommunikationsaufgabe: Sie muss in einem Klima der Angst vor einem kalten Winter vermitteln, warum Frackinggas-Verträge von 2026 bis 2045 kurzfristig sinnlos und langfristig fatal sind. Sachlich einleuchtend, aber ihr gegenüber steht eine Phalanx der Alternativlosigkeit aus sämtlichen Industrieverbänden und fast allen bürgerlichen Medien, angeführt vom verantwortlichen grünen Erklärminister, den Mitte-links-Kreise längst als heimlichen Kanzler feiern. Ab Oktober wird sich vor diese Formation auf der Straße absehbar noch ein wutbürgerliches Freiwilligen-Bataillon schieben. Dass dieses wahrscheinlich zuerst Robert Habecks Kopf fordern wird, hilft der Klimabewegung auch nicht weiter.

Während diese beim Kohleausstieg eine Mehrheit hinter sich wusste, befindet sie sich bei LNG in der klaren Minderheit. Das »System Change Camp« steht nun für eine Flucht nach vorne: Viele in der Bewegung sehnten sich seit langem nach einem großen Zusammentreffen zwischen der zunehmenden Zerstreuung, die das schnelle Wachstum in den letzten Jahren mit sich gebracht hat. Zentrale Events geben Kraft für den politischen Arbeitsalltag, der sich seit Pandemiebeginn oft so zäh gestaltete. Klimacamps werden mittlerweile in jeder mittelgroßen Stadt organisiert, häufig mit großem Aufwand, aber überschaubarem Zulauf. Das Hamburger Camp dagegen bringt nicht nur die großen überregionalen Klimagruppen zusammen – Fridays for Future, Extinction Rebellion und Ende Gelände –, sondern auch viele antifaschistische und internationalistische Organisationen. Dass auch das »… ums Ganze«-Bündnis seine Hafenblockade gegen den wichtigen Logistikknotenpunkt des globalen Kapitalismus als Teil der Aktionstage veranstaltet, verdeutlicht ein neues Bewusstsein sozialer Bewegungen: Klimakrise, globale Ausbeutung, Militarismus und Rechtsruck werden so inhaltlich verknüpft, und die dagegen Ankämpfenden finden wieder näher zueinander – als Gegenpol zum nationalistischen Reflex, den die akute Krise überall auslöst.

Auch für die Klimagerechtigkeitsbewegung im engeren Sinne ist das Camp eine wichtige Gelegenheit, sich wieder kennenzulernen. Nun gilt es, inhaltliche Perspektiven in der veränderten Situation zu entwickeln, um auch in einer Minderheitenposition nicht isoliert und wirkungslos zu enden. Wie mit explodierenden Energiepreisen umgehen? Wie lässt sich aus den immer häufigeren Einschlägen der Klimakrisenrealität politische Energie statt bloßer Resignation ziehen? Dazu haben sicher auch die Gäste aus den vom europäischen Energiehunger betroffenen fossilen Brennpunkten der Welt etwas beizutragen. Wenn es im Sinne der Bewegungen läuft, werden Sie an diesem Wochenende einiges von den Aktionen hören. Im besten Fall nicht nur Scharmützel, sondern auch klare Forderungen – nach Systemwandel statt LNG. Und die Aktivist*innen können mit dringend benötigter neuer Energie zurück in den Alltag fahren.

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