- Kultur
- Typisch Sommer
Nicht riechen, lesen
Entdecke die anderen Seiten des Sommers
Der Sommer ist ein sensorischer Mehrfrontenangriff. Er überrollt die Sinne mit schreienden Bildern, gellenden Geräuschen, sengender Hitze und durchdringenden Gerüchen. Er ist zu grell, zu schrill, zu heiß, zu aufdringlich. Und der allgegenwärtige Sex riecht nach abgelaufenem Grillfleisch, mariniert in zu viel Sonnencreme. Dagegen hilft nur eines: Flucht. Der Rückzug in andere Welten. Also Lesen. Literarische Therapie. Lektüre, die Reizreduzierung verheißt. Unerreicht in dieser Hinsicht: Thomas Manns »Der Zauberberg«: 1008 Seiten, auf denen nichts passiert. Reiche Tuberkulosekranke vertreiben sich in einem abgelegenen Schweizer Bergsanatorium die Zeit, indem sie über Gott und die Welt reden. Und das sieben Jahre lang. Das soll philosophisch sein, ist aber nur langweilig. Sterbenslangweilig. Ab und zu stirbt einer, und gefühlt ist immer Spätherbst oder Winter. Der einzige Aufreger ist der Beginn des Ersten Weltkriegs. Jetzt könnte es endlich spannend werden – Thomas Mann entschied sich, den »Zauberberg« an dieser Stelle enden zu lassen. Was für ein Cliffhanger!
Perfekt für Dürresommer: Karen Duves »Regenroman«. Der Titel ist Programm. Die Niederschlagsmenge im Buch dürfte Hektoliterniveau erreichen. Es geht um den Traum vom eigenen Häuschen, der buchstäblich im Moor versinkt. Um zwei Menschen, deren Beziehung vor sich hinmodert. Das Ganze ist Psychothriller und Paarstudie zugleich. Nach der Lektüre kann einem selbst subtropische Schwüle nichts mehr anhaben. Gute Voraussetzungen für »Licht im August«. Wie keinem anderen Autor gelang es William Faulkner in seinen Südstaaten-Romanen das meteorologische und gesellschaftliche Klima eins werden zu lassen. Menschen geraten ins Schwitzen, weil sie nicht nur dem Wetter, sondern auch ihren Emotionen nicht gewachsen sind. Und die Sumpflandschaft von Mississippi findet ihre Entsprechung in jenem moralischen Sumpf aus Erbschuld und sexuellen Schuldgefühlen, dem die Akteure vergeblich zu entrinnen suchen. Man ist zu allem bereit, sogar zum Mord, doch nicht in der Lage, seinem Schicksal zu entkommen.
Zu gar nichts bereit sind die Menschen in Judith Hermanns »Sommerhaus, später«. Wer mit sich selber hadert, weil mit den Temperaturen auch die Antriebsarmut steigt, kann sich nach diesem Buch entspannt zurücklehnen. Phlegmatischer und unentschlossener zu sein als die Protagonisten dieser Erzählungen ist schwerlich möglich. Damals, 1998, hielten manche Hermanns Kurzgeschichten für den »Sound einer neuen Generation« (Hellmuth Karasek). Mittlerweile wissen wir es besser: Jene selbstzentrierten Möchtegern-Bohèmiens, das ist genau jener Menschenschlag, der heute irritiert vor Krieg und Klimawandel steht und sich wundert, wie alles so weit hat kommen können. Da verbieten sich natürlich Fernreisen. Zumal andere diesen Job für uns bereits erledigt haben. Christian Kracht und Eckhart Nickel haben »die angenehmsten Orte der Welt« bereist – so der Untertitel von »Ferien für immer«. Doch dem Dilemma des modernen Touristen, der selbst an Orten, die»«Geheimtipps» sind, nur auf weitere Touristen stößt, können auch sie nicht entgehen. So stellen Kracht und Nickel bereits im Vorspann resigniert fest: «Den großen Reisenden gewidmet, die es besser gemacht haben. Es war eben eine andere Zeit.»Dem würde Marc Fischer widersprechen. Sein Alter Ego geht in «Jäger» auf Haijagd – es wird ein Trip ins «Herz der Finsternis» (Joseph Conrad). Es sind solche vor Lebensgier berstenden Bücher, die einen den ganz normalen deutschen Sommerhorror vergessen lassen.
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