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Das Stollberger Aufbauwerk
Wie in einer sächsischen Kleinstadt mit Hilfe von Bund und Land der Stadtumbau gelingt
Das bekannteste Gebäude von Stollberg ist nicht wirklich ein Aushängeschild. Weithin sichtbar thront Schloss Hoheneck über der sächsischen Stadt. Aus der Ferne wirkt es mit seinem schlanken Turm und Mauerkronen, die an Zinnen erinnern, zwar tatsächlich wie ein alter Adelssitz. Beim Näherkommen fällt aber auf, dass die regelmäßig angeordneten Fenster in den Ziegelmauern vergittert sind. Einst, sagt Stollbergs Oberbürgermeister Marcel Schmidt, stand an dieser Stelle eine Burg, in der deutsche Kaiser »hin und wieder Urkunden ausfertigten«. In seiner heutigen Form aber wurde Hoheneck im Jahr 1865 als »königlich-sächsische Weiber-Zuchtanstalt« errichtet.
Das daraus hervorgegangene Frauengefängnis Hoheneck ist berüchtigt. In der DDR wurden hier Kriminelle eingesperrt, aber auch Menschen, die aus politischen Gründen zu Haftstrafen verurteilt wurden, teils aus nichtigen Anlässen. Frühere Gefangene berichten von Schikanen und entwürdigenden Bedingungen. Der Rathauschef gewährt einen Blick in beengte Zellen. Die Toiletten in den Ecken, sagt er, seien erst nach 1990 eingebaut worden, als der Freistaat Sachsen noch eine Zeitlang Abschiebehäftlinge in Hoheneck unterbrachte. Zuvor gab es nur Eimer. Dabei sei der für 700 Häftlinge ausgelegte Trakt mit bis zu 1600 Frauen belegt gewesen, sagt Schmidt: »Es gab keine Privat- oder gar Intimsphäre.« Seine Schritte hallen im hohen Lichthof, während er Besucher durch das Gebäude führt und erschütternde Schicksale schildert. »Hier«, sagt er, »geht niemand lachend raus.«
Im Wettstreit mit München und Hannover
Ein prominentes, aber düsteres Gebäude wie Hoheneck wirkt nicht anziehend, auch wenn es seit Jahren nicht mehr als Knast genutzt wird. Dabei will und muss Stollberg anziehend wirken. Die Stadt brummt in wirtschaftlicher Hinsicht; sie zählt zu den heimlichen Zentren in der südwestsächsischen Industrieregion zwischen Chemnitz und Zwickau. In den Gewerbegebieten, die am Stadtrand und der Autobahn A72 errichtet wurden, wird für Tesla und die Nasa produziert und an neuen Antriebstechnologien für die Autobranche getüftelt. Täglich pendeln 5500 Menschen aus dem Umland zum Arbeiten in die Stadt; trotzdem suchen viele Firmen händeringend weitere Fachkräfte. Deren Geschäftsführer berichten, dass viele Interessenten gleichzeitig Bewerbungen bei Unternehmen etwa in Hannover oder München einreichten, sagt der Oberbürgermeister. Damit sie dennoch nach Stollberg ziehen, »müssen bei uns die Bedingungen stimmen«.
Wie schafft das eine Kleinstadt in der sächsischen Provinz, in der nur 11 500 Einwohner leben, in der es kein Theater, keine quirlige Kneipenmeile, keine alternative Kunstszene und keine große Fußballmannschaft gibt? Schmidt verweist auf die Nähe zur Natur; das Erzgebirge beginnt gleich hinter der Stadtgrenze. Er lobt die Nähe zu Chemnitz, das zwar nicht ganz in der Liga von München spielt, aber immerhin großstädtisches Flair hat und per Straßenbahn im Handumdrehen zu erreichen ist: »In einer halben Stunde ist man in der Oper und kommt nach einem Glas Wein auch nachts noch zurück.« In Stollberg selbst, lobt der Rathauschef, finde man preiswerte Wohnungen, Kitas, Schulen – und nicht zuletzt ein adrettes Stadtbild: »Brachen und Ruinen gibt es hier fast nicht mehr.«
Eltern sagten: Geht lieber weg!
Dabei hatte die in den vergangenen 100 Jahren sehr wechselvolle Geschichte der Stadt viele solcher Schandflecken geschaffen. Stollberg, einst ein unbedeutender Provinzflecken, erlebte in der Gründerzeit einen enormen Aufschwung. Unter anderem war hier die größte Strumpffabrik Europas ansässig. Auch der Steinkohlenbergbau im Zwickauer Revier sorgte für Arbeit. Fabriken und Wohnhäuser wurden aus dem Boden gestampft. Auch in der DDR prosperierte Stollberg; allerdings wurde kaum in den Erhalt der historischen Bausubstanz investiert. Wohnungen entstanden vielmehr in Neubaugebieten am Rand der Stadt. Nach 1990 wiederum entwickelten sich diese zu Problemvierteln; teils stand jede fünfte Wohnung leer. Viele Betriebe waren abgewickelt worden, jeder vierte Stollberger arbeitslos. »Eltern sagten zu ihren Kindern: Geht lieber weg!«, erinnert sich Schmidt. Viele folgten dem Rat. Für die Stadt führten all das zu Problemen an allen Ecken und Enden: verfallende Wohnhäuser in der Innenstadt, marode Fabrikgebäude, in denen nichts mehr produziert wurde, und Plattenbaugebiete, die als »Ghetto« verschrieen waren.
Dass davon heute nicht mehr viel zu sehen ist, liegt nicht zuletzt an finanzieller Hilfe von Bund und Land. Sie stammt aus Töpfen der Städtebauförderung, die im laufenden Jahr mit 1,58 Milliarden Euro gefüllt sind. Auf Sachsen entfallen davon 149 Millionen Euro. Insgesamt wurden im Freistaat seit 1990 rund 6,2 Milliarden Euro in die Verschönerung von Städten gesteckt, erklärt Thomas Schmidt (CDU), sächsischer Staatsminister für Regionalentwicklung. Die Kommunen müssen in der Regel ein Drittel der Investitionen tragen und sind auch für die Initiative zuständig, betont der Minister: »Dass die Ideen aus den Städten selbst kommen, ist Grundprinzip.«
Städtebauförderung wird in der Bundesrepublik seit einem halben Jahrhundert betrieben, sagt Ulrich Menke, Abteilungsleiter im Dresdner Ministerium. Damals habe es Widerstand gegen die verbreiteten »Kahlschlagsanierungen« der 1960er Jahre gegeben. Das neue Programm sollte eine behutsame Stadterneuerung und die Entwicklung bestehender Quartiere ermöglichen; es gehe darum, »städtebauliche Missstände« zu beseitigen, sagt Menke: Leerstand, Vernachlässigung, Verkehr, soziale Schieflagen. Nach 1990 wurde das Programm auf die ostdeutschen Bundesländer ausgedehnt. Weil die anfangs starke Abwanderung dort vor allem den exorbitanten Leerstand zum Problem werden ließ, der Wohnungsunternehmen in ihrer Existenz bedrohte, floss zunächst vor allem viel Geld in den Abriss. In Sachsen verschwanden auf diese Weise binnen zwei Jahrzehnten 126 300 Wohnungen, Kosten: 400 Millionen Euro.
Vom Schlachthof zum Kulturzentrum
Auch in Stollberg betrieb man Abriss in großem Stil: In einem Wohngebiet an der Dürerstraße traf es 500 Wohnungen, 40 Prozent des Bestands, sagt Rathauschef Schmidt. Teils wurden ganze Blöcke entfernt und durch Grünflächen ersetzt, teils aber auch nur Etagen abgetragen. Manche Häuser wurden mit Fahrstühlen und Laubengängen versehen, was die Wohnungen attraktiver für ältere Mieter macht, aber auch für junge Eltern mit Kinderwagen. In einer ehemaligen Grundschule wurde ein Stadtteilzentrum eingerichtet, inklusive Indoorspielplatz mit einer über mehrere Etagen reichenden Rutsche: »Darum beneiden uns selbst Besucher aus Dresden oder Leipzig«, schwärmt der Oberbürgermeister.
Die 60 Millionen Euro, die allein Stollberg an Städtebauförderung erhalten hat, dienten aber längst nicht nur dazu, Gebäude abzureißen. Andere wurden vor dem Verschwinden bewahrt. Der »Alte Schlachthof« etwa, vor 100 Jahren eröffnet, wurde bis 1990 tatsächlich für die Fleischverarbeitung genutzt; dann konzentrierte sich das Geschäft auf immer weniger Großbetriebe. Der Backsteinbau in Stollberg stand jahrelang leer, bevor ihn junge Leute 2012 mit einer Silvesterparty in Besitz nahmen. Meterdicke Mauern rund um den Kühlraum ließen ihn für lautstarke Musikveranstaltungen ideal geeignet erscheinen, sagt Marcel Becker, einer der Aktivisten. Das Gebäude selbst aber sei »eine Ruine« gewesen. Um sie zu beleben, wurde ein Verein gegründet, der auch bei der 1,8 Millionen Euro teuren und 2015 abgeschlossenen Sanierung federführend war und den Becker heute leitet. Inzwischen ist der »Alte Schlachthof« ein beliebtes Kultur- und Begegnungszentrum in Stollberg, in das Jugendliche ebenso kommen wie Senioren und wo an diesem Tag Schulkinder in der »Upcycling«-Werkstatt basteln. Der Laden floriert, sagt Becker – so gut, dass die Arbeit faktisch nicht mehr im Ehrenamt zu stemmen sei.
Auch andernorts ermöglichten Fördermittel eine Art Stollberger Aufbauwerk. Der »Bürgergarten«, ein aus der Gründerzeit stammendes Ausflugslokal, galt als das städtische »Familiengründungszentrum«, wie der Rathauschef augenzwinkernd anmerkt, und beherbergte noch bis 1989 Tanzveranstaltungen. Danach aber wurde er nicht mehr genutzt; die ohnehin ungepflegte Bausubstanz verfiel so stark, dass die mit Stuck, Kronleuchtern und Gemälden versehene Saaldecke in Teilen herunterbrach. Erst nach 20 Jahren Leerstand gelang doch noch eine Sanierung. Heute werden in dem Gebäude Musikschüler unterrichtet und Ehen geschlossen. Damit die Hochzeitsfotos vom Balkon nicht vor tristem Hintergrund entstehen, ließ man sich auch für ein benachbartes Grundstück eine unorthodoxe Lösung einfallen. Dort baute auf einer ehemaligen Industriebrache ein Discounter, dessen Filiale zur Belebung der Innenstadt beitragen soll. Damit der Blick vom höher gelegenen »Bürgergarten« nicht auf Teerpappe und Kühlaggregate fällt, wurde auf dem Dach ein Park angelegt, mit Rabatten, Bänken und einem Klettergerüst. Auch dafür gab es Städtebau-Fördermittel.
Hoheneck soll künftig »Stalburc« heißen
Diese sollen Stollberg nun auch helfen, eine neue Nutzung für das ehemalige Gefängnis Hoheneck zu ermöglichen, sagt der Rathauschef. An dieses wird eine Ausstellung erinnern, die 2023 eröffnen soll. Besuchern werden auch Führungen durch den Zellentrakt angeboten, der originalgetreu erhalten bleibt. In anderen Teilen des Gebäudes aber werden eine naturwissenschaftliche Ausstellung und ein Kinder- und Jugendtheater untergebracht, in der ehemaligen Wäscherei des Gefängnisses sogar ein Fitnessstudio für Senioren.
Derlei Nutzung habe bei manchem Stollberger und auch bei früheren Gefangenen für Bedenken gesorgt. Schmidt hält sie aber für richtig: »Wir wollen alles das hierherbringen, was früher von diesem Ort verbannt war: Freude, Familie, Kinder, Gesundheit«, sagt der Oberbürgermeister. Die Sanierung von Hoheneck soll insgesamt 27 Millionen Euro kosten; die Stadt muss eigentlich ebenfalls ein Drittel der Kosten tragen, was sie aber finanziell an ihre Grenzen bringt, wie der Rathauschef einräumt. Er würde sich mehr Geld vom Bund wünschen; schließlich sei der Umgang mit dem Gefängnis »eine nationale Aufgabe«.
Wer auch immer wie viel für die Sanierung bezahlt: Sie soll dazu beitragen, dass das bekannteste Stollberger Gebäude doch noch zu einer Art Aushängeschild wird. Helfen soll dabei auch ein Namenswechsel. Die Bezeichnung »Hoheneck« soll nur noch im Zusammenhang mit der Gedenkstätte auftauchen. Ansonsten wird der Komplex unter dem historischen Etikett »Stalburc« vermarktet. Von diesem, sagt der Rathauschef, »leitet sich schließlich auch der Name unserer Stadt ab«.
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