- Wirtschaft und Umwelt
- Armutsrenten und Inflation
Es reicht nicht zum Leben
Das deutsche Rentensystem hat längst versagt – da helfen auch keine Rechenspiele mehr
Für Anne S. ist die soziale Krise, vor der die Sozialverbände in Deutschland gerade vermehrt warnen, längst da. »Ich bekomme 940 Euro Rente und 35 Euro Wohngeld. Nach allen Fixkosten bleiben mir 367 Euro für den ganzen Monat«, sagt die 68-jährige Leipzigerin. Ihren vollen Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen.
Im vergangenen Jahr erhielten knapp 700 000 Menschen über 65 Jahren die sogenannte Grundsicherung. Sozialverbände wie der VdK gehen allerdings von einer deutlich weiter verbreiteten Altersarmut aus. »Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher sein, da viele Menschen keine Grundsicherung beantragen, weil sie das stigmatisierend finden«, sagte Verena Bentele, Bundesvorsitzende des VdK, am Wochenende. Anne S. liegt mit ihrer Rente von 940 Euro ganze 17 Euro über dem Betrag, mit dem sie Anspruch auf die Grundsicherung hätte. Wenn das gesamte Einkommen einer Person unter 924 Euro liegt, sei eine Prüfung auf Grundsicherungsanspruch angeraten, heißt es bei der Deutschen Rentenversicherung.
Die letzte Rentenerhöhung gab es im Juli, die Bezüge stiegen im Westen um 5,35 Prozent und im Osten um 6,12 Prozent. Doch es gab sofort auch Kritik, da die Erhöhung zum einen durch den sogenannten Nachholfaktor letztlich geringer ausfiel und zum anderen von der aktuell hohen Inflation aufgefressen wird. Und überhaupt reicht diese Erhöhung gerade für Menschen mit kleiner Rente bei Weitem nicht aus. Abhilfe schaffen soll die bereits vor einem Jahr gestartete Grundrente, die letztlich ein Zuschlag zur individuell berechneten Rente ist. Voraussetzung für den Bezug ist, dass die jeweilige Person viele Jahre Beiträge gezahlt hat und trotzdem nur eine geringe Rente bekommt.
Die Aufwertung geringer Rentenansprüche aus langjähriger Beitragszahlung soll den Beziehenden regelmäßig eine Rente über der Grundsicherung garantieren. So gibt es nach 45 Jahren Arbeit in Vollzeit zum ab Oktober gültigen gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro rund 1060 Euro Rente. Ohne die vorgesehene Grundrente wären es nur 860 Euro. Doch auch jene 1060 Euro sind nicht mal 100 Euro mehr, als beispielsweise Anne S. zur Verfügung hat. Die Forderung zur Nachzahlung von gut 400 Euro Nebenkosten aus dem Jahr 2021 konnte die Leipzigerin bis heute nicht begleichen. So wie sie überhaupt für »größere« Posten nie Geld habe. »Es darf nichts kaputtgehen, wie zum Beispiel die Waschmaschine«, sagt sie. »Und auch Kunst und Kultur passen nicht mehr ins Budget.«
Ein Grund für die skandalös niedrigen Renten, mit denen Millionen alter Menschen hierzulande in die Armut getrieben werden, ist der bereits genannte Nachholfaktor. Dieser wurde im Jahr 2007 vom damaligen Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) zusammen mit der Rente mit 67 eingeführt. Ziel ist es, das Rentenniveau trotz Schutzklausel mittelfristig so zu senken wie ohne Schutzklausel vorgesehen. Die Forderungen von Gewerkschaften und Sozialverbänden, dass die Renten mit den Löhnen steigen müssen, werden damit unterlaufen. Der Nachholfaktor bedeutet am Ende Rentenkürzungen und verhindert, dass die Renten den Löhnen folgen.
Anne S. aus Leipzig bringt aber noch eine der strukturellen Schieflagen im deutschen Rentensystem auf den Punkt, wenn sie sagt: »Vor allem die Frauen meiner Generation aus dem Osten sind durch das verstaubte Rentenpunktesystem doppelt gestraft. Einmal durch die Arbeitslosigkeit nach der Wende und Vereinigung, die sehr viele von uns traf. Und bei mir kommen dann noch relativ lange Studienjahre hinzu, die ja für die Rente nicht angerechnet werden.« Für die 68-Jährige gibt es realistisch gesehen »in diesem ganzen Elend«, wie sie sagt, nur eine Alternative, »und zwar ein Bürgergeld in einer Höhe von mindestens 1100 Euro«. Es klingt eigentlich noch viel zu bescheiden nach jahrzehntelanger Vollzeitarbeit bei verschiedenen sozialen Trägern, auf die sie zurückblickt.
Am Montag ist nun bekannt geworden, in welchem Umfang Gasimporteure ihre gestiegenen Kosten über die sogenannte Gasumlage an die privaten Haushalte weitergeben können. Laut Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) soll so die »ganze Wucht« der hohen Preise »auf unsere gemeinsamen Schultern« verteilt werden. Konkret soll die Umlage ab dem 1. Oktober 2,419 Cent pro Kilowattstunde betragen, auf einen Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 20 000 Kilowattstunden kommen so laut Berechnungen der Vergleichsportale Check24 und Verivox Mehrkosten von 576 Euro im Jahr zu. Die Höhe der Umlage kann alle drei Monate angepasst werden – nach oben oder unten.
Für die Millionen Rentnerinnen und Rentner mit ihren Armutsbezügen wird das nicht zu stemmen sein, weshalb der Vdk beispielsweise die Energiepreispauschale in Höhe von 300 Euro dringend auch für diese Bevölkerungsgruppe fordert. Sollten die aktionistischen Bemühungen der Bundesregierung weiter so an den Ärmsten der Gesellschaft vorbeigehen, drohe ebenjene »soziale Krise«, so der VdK. Dabei ist sie längst da.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.