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Gaskrise bremst Leipziger Kohleausstieg
Neues Fernwärme-Kraftwerk geht Ende Oktober ans Netz – aber Versorgung mit Erdgas ist nicht garantiert
Die Nachricht machte bundesweit Schlagzeilen: Leipzig will den Kohleausstieg, und zwar 16 Jahre bevor dieser auch im Bund vollzogen wird. Schon ab dem kommenden Winter sollte die Fernwärme für 220 000 Haushalte zu einem großen Teil in einem neuen Kraftwerk erzeugt werden, das die Stadtwerke derzeit im Süden der sächsischen Großstadt errichten und in dem keine Kohle mehr verfeuert wird. Nun steht die Anlage zwar termingerecht vor der Fertigstellung: Derzeit läuft die Inbetriebnahme, Ende Oktober soll sie ans Netz gehen. Doch wie lange sie in der nächsten Heizperiode laufen kann, ist ungewiss. Der Grund: Als Brennstoff wird Erdgas genutzt – und das ist aktuell knapp und teuer.
Zwar betont der Betreiber, dass erste Verträge für die Versorgung mit Erdgas im kommenden Winter unterzeichnet seien. Dieses hätten die Stadtwerke an der Energiebörse und bei Großhändlern gekauft, hieß es in einem Beitrag im firmeneigenen Blog im Mai, drei Monate nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Allerdings hat sich die Gaskrise extrem zugespitzt. Die Liefermengen aus Russland bleiben weit unter denen, die vertraglich mit den deutschen Importeuren vereinbart sind; die Erschließung alternativer Quellen wie Liquid Natural Gas (LNG) für den deutschen Markt braucht Zeit.
In Leipzig betont man zwar, dass die Fernwärmeversorgung im Gesetz als »geschützter Verbraucher« eingestuft sei und in den Gas-Notfallplänen des Bundes hohe Priorität habe, was bei der Zuteilung berücksichtigt werden müsste. »Aber Gewissheit gibt es derzeit nicht«, räumt Frank Viereckl ein, Sprecher der L-Gruppe, zu der die Stadtwerke und andere kommunale Unternehmen gehören. Unklar sei, »ob es ausreichend Gas gibt und wie teuer es ist«. Heikel sind zudem Überlegungen in der Politik, die Stromgewinnung aus Erdgas zu verbieten. Im neuen Leipziger Kraftwerk gibt es eine starre Kopplung von Strom- und Wärmegewinnung.
Trotz der Unwägbarkeiten versichern die Stadtwerke, dass die Heizungen in der Stadt mit ihren mehr als 600 000 Einwohnern nicht kalt bleiben. Zum einen verfügten die Stadtwerke im Leipziger Norden über ein Kraftwerk, das außer mit Gas auch mit Öl zu befeuern sei, sagt Viereckl. Zudem wurde bereits vor zwei Jahren ein Anschlussvertrag mit dem Kraftwerkskonzern Leag geschlossen, der dafür sorgt, dass weiter Fernwärme aus dem von diesem betriebenen Kohlekraftwerk Lippendorf bezogen werden kann.
Von diesem will sich die Stadt Leipzig, deren Stadtrat 2019 den Klimanotstand feststellte, zwar abnabeln. Das im Jahr 2000 in Betrieb genommene Kraftwerk zählt zu den Top-10-Quellen von klimaschädlichem Kohlendioxid in der EU. Doch der Liefervertrag mit der Leag wird nun trotzdem bis Herbst 2025 fortgeführt. Ursprünglicher Grund war die zeitweise Ungewissheit, ob das neue Kraftwerk wegen der Pandemie und weltweiter Lieferengpässe rechtzeitig fertig wird. Nun hilft das Kohlekraftwerk auch, den akuten Gasnotstand abzupuffern. Zwar meldete die »Leipziger Volkszeitung« kürzlich, dass auch die Fernwärme aus Lippendorf teurer wird. Aber immerhin: Selbst im schlimmsten Fall, wenn gar kein Gas zur Verfügung stünde, »wäre Leipzig trotzdem warm«, sagt Viereckl.
Die Gaskrise bringt in Leipzig ein Vorhaben ins Schlingern, das eigentlich als Musterbeispiel für die Energiewende konzipiert war. In dem Kraftwerk erzeugen zwei jeweils 62,5 Megawatt starke Turbinen Strom und Wärme; Letztere kann in einem 60 Meter hohen runden Turm, der mit 100 Grad heißem Wasser gefüllt wird, so lange gespeichert werden, bis genügend Leipziger die Heizung aufdrehen. Kritiker merken indes an, dass auch das anfangs genutzte Erdgas ein fossiler Energieträger ist, dessen Verbrennung CO2 freisetzt. Pro erzeugter Kilowattstunde sind es aber nur 550 Gramm, bei Braunkohle dagegen 1150 Gramm. Zudem liefe das Gaskraftwerk nur, wenn wirklich Wärme benötigt wird. Pro Jahr, rechnete der BUND vor, werde im Kraftwerk Süd lediglich so viel CO2 freigesetzt, wie einer der zwei Kraftwerksblöcke in Lippendorf in 15 Tagen ausstößt. Die Umweltorganisation animierte Unterstützer, als Stromkunden zu den Stadtwerken zu wechseln, wenn diese den Kohleausstieg tatsächlich vollziehen.
Perspektivisch soll das neue Kraftwerk Leipzig Süd ohnehin mit grünem Wasserstoff betrieben werden. Die meisten Anlagen sind bereits jetzt dafür ausgelegt; im Fall der Turbinen ist mit dem Hersteller Siemens Energy vertraglich vereinbart, dass notwendige Anpassungen schnell vorgenommen werden. Ein Modellprojekt sieht vor, den Wasserstoff in direkter Nachbarschaft zu erzeugen – im historischen, 1910 errichteten Heizkraftwerk nebenan könnten dafür Elektrolyseure eingebaut werden, die das Gas mit überschüssigem Strom aus erneuerbaren Quellen erzeugen. Entsprechende Absichtserklärungen für eine Machbarkeitsstudie seien unterzeichnet, sagt Viereckl. Allerdings ist das Zukunftsmusik: Realistisch sei ein Umstieg auf grünen Wasserstoff in etwa zehn Jahren. Bis dahin ist das Kraftwerk auf Erdgas angewiesen. Es muss ja nicht aus Russland kommen.
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