»Mit der eigenen Stimme sprechen«

Nicole Amoussou hat die Schwarze Akademie gegründet. Damit will sie Wissen zugänglich machen,das bisher verdeckt war

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 9 Min.
Ausgestellte Objekte aus afrikanischen Ländern – zumal wenn es sich um koloniale Raubkunst handelt – sind oftmals völlig aus dem Kontext gerissen. Wissen über deren Bedeutung hierzulande wie auch in den Herkunftsländern zu verbreiten, ist ein Ziel der Schwarzen Akademie.
Ausgestellte Objekte aus afrikanischen Ländern – zumal wenn es sich um koloniale Raubkunst handelt – sind oftmals völlig aus dem Kontext gerissen. Wissen über deren Bedeutung hierzulande wie auch in den Herkunftsländern zu verbreiten, ist ein Ziel der Schwarzen Akademie.

Sie leiten die Schwarze Akademie. Was kann man sich darunter vorstellen?

Interview


Mariette Nicole Afi Amoussou ist Beraterin und Trainerin für entwicklungspolitische Bildungsarbeit. Sie leitet das Projekt Schwarze Akademie. Eine Eröffnung fand im Mannheimer Schloss in Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut und der Stadt Mannheim statt. Ulrike Wagener sprach mit ihr über koloniale Kontinuitäten, Entwicklungszusammenarbeit und verdecktes Wissen.

Die Schwarze Akademie soll eine Plattform sein, um die Perspektiven von Schwarzen Menschen sichtbar zu machen. Künftig werden auf unserer Plattform Kurse und Bildungsmaterialien zur Geschichte Schwarzer Menschen angeboten. Wir machen das für alle zugänglich, aber die Expert*innen sind Schwarze Menschen. Wir wollen kein Wissen ersetzen, sondern einen ausgelassenen Teil der Geschichte erzählen, sodass sie vollständig wird.

Warum wird Schwarz großgeschrieben?

Um deutlich zu machen, dass es bei »Schwarz« nicht um die Hautfarbe geht, jedenfalls nicht nur. Schwarz großgeschrieben ist eine Selbstbezeichnung und eine politische Positionierung. Bei Schwarz denkt man oft direkt an Afrika, aber es gibt auch Schwarze Menschen in Deutschland, die nie in afrikanischen Ländern waren, die nur Deutsch sprechen und bis heute nicht als Teil ihrer Gesellschaft wahrgenommen werden. Sie müssen immer wieder die Frage beantworten, wo sie herkommen. Das prägt die Identität eines Kindes. Jemand, der das fragt, denkt sich vielleicht: Ach, ich habe doch nur einmal gefragt, was kann daran so schlimm sein? Aber stellen Sie sich vor, Sie werden 40 Jahre lang alle paar Tage gefragt, wo Sie herkommen.

Man bekommt das Gefühl, man gehört nicht hierhin.

Genau. Damit geht auch ein Identitätsverlust einher. Deshalb konzentrieren wir uns nicht nur darauf, zu dekolonisieren, zu sensibilisieren, sondern auch Schwarze Menschen zu empowern, sich als Schwarz zu positionieren und das nicht als etwas negatives oder minderwertiges zu sehen. Wir wollen Teilhabe für alle.

Ich kann mir vorstellen, dass sich einige fragen: Ist Wissenschaft nicht universell? Warum braucht es eine explizit Schwarze Akademie?

Das Wissen Schwarzer Menschen wurde über Generationen hinweg nicht als solches anerkannt. Um dem etwas entgegenzusetzen, haben wir uns bewusst für Akademie entschieden. Ich nenne gern dieses Beispiel aus Benin: In unserer Gesellschaft haben Leute schon vor 400 Jahren ein Konzept entwickelt, wie sie die Wälder schützen können. Und dann wurden während der Kolonialzeit Wälder abgeholzt, im Namen der Zivilisierung, um Straßen zu bauen, die zu großen Teilen zum Hafen führten.

Um Waren nach Europa zu exportieren.

Genau. Und heute kommen wir mit Konzepten, die angeblich aus Europa kommen, und erzählen Menschen im globalen Süden, wie sie die Wälder schützen sollen. Dabei gab es vor Ort bereits Wissen darüber, was verloren gegangen ist oder die Konzepte existieren noch – wurden aber nicht nach Menschen aus Afrika oder Lateinamerika benannt.

Sie haben Ihre Eröffnung in Mannheim mit Mikwabo überschrieben. Das heißt »Willkommen« auf Fon, einer Sprache aus Benin. Warum ausgerechnet diese Sprache?

Uns war wichtig, dass viele verschiedene Sprachen gehört werden. Sprachen spielten eine wichtige Rolle in der Kolonialzeit. Allein in Benin gibt es mehr als 60 Sprachen, die langsam aussterben, weil sie nicht weitergegeben werden. Fon ist meine Muttersprache. Außerdem wollten wir ein Wort finden, das leicht auszusprechen ist.

Sie selbst haben auch schon Institutionen in Bezug auf Entwicklungszusammenarbeit beraten. Was sollte Deutschland in diesem Bereich verändern?

Entwicklungszusammenarbeit sollte nicht bei den politischen Organisationen anfangen, sondern in den Schulen. Denn dort werden die zukünftigen Leiter*innen dieser Organisationen ausgebildet. Ich habe hier ein zweites Studium absolviert im internationalen Management. Eine Auseinandersetzung mit Bildern und Sprache, die koloniale Muster reproduzieren, fand dort nicht statt. Auf diese Weise wiederholen Politiker*innen und Organisationen immer wieder diese kolonialen Muster, weil sie die Geschichte dahinter nicht kennen.

Zum Beispiel?

Vor ein paar Jahren hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung eine Kampagne gemacht mit den sogenannten »Big Five« (Große Fünf), um bestimmte Aspekte der Entwicklungszusammenarbeit zu beleuchten. Das war wahrscheinlich gut gemeint, ist aber bei Teilen der Schwarzen Community nicht gut angekommen. Denn dahinter steckt eine koloniale Geschichte: Als »Big Five« bezeichneten Großwildjäger in der Kolonialzeit Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe und Leopard. Sie töteten sie, ließen als Zeichen der Macht Bilder von sich anfertigen und nahmen die toten Tiere als Trophäen mit nach Hause. Um zu zeigen, dass Afrika anders dargestellt werden kann, haben Berliner Organisationen ein Gegenplakat gemacht und die »Big Five« anders dargestellt: mit fünf Persönlichkeiten aus afrikanischen Ländern, die in der Kolonialzeit für Unabhängigkeit gekämpft haben. Es ist nur ein Beispiel von vielen, die immer wieder zeigen, dass internationale Zusammenarbeit kolonial geprägt ist und eine Auseinandersetzung ganz früh passieren sollte.

Sie wollen auch das Internet dekolonisieren. Wie das?

Uns geht es in einem ersten Schritt darum, Sichtbarkeit zu schaffen und koloniale Muster in Sprache und Bildern zu dekonstruieren. Ein zweiter Schritt wäre es, den Hass zu adressieren, dem Schwarze Menschen im Internet ausgesetzt sind, den wir auch erfahren, seit wir die Schwarze Akademie ins Leben gerufen haben.

Sie erfahren Hass wegen der Schwarzen Akademie?

Ja. Wir haben uns entschieden, noch nicht öffentlich darüber zu sprechen. Aber das fordert viel Kraft.

In Deutschland gibt es seit einigen Jahren – ein Auslöser war das Humboldt-Forum – mehr Diskussionen über Kolonialismus und Raubgüter. Werden diese Diskussionen sinnvoll geführt?

Ich glaube, das ist schon ein Anfang. Vor 50 Jahren hätte man diese Diskussion überhaupt nicht führen können. Ich persönlich feiere jeden Schritt, jede Kontroverse. Denn das bedeutet auch, dass verschiedene Meinungen ins Gespräch kommen. Uns geht es auch hier um Bildung: Als ich das erste Mal das Artefakt Legba in einem Museum in Deutschland gesehen habe, war ich schockiert. Das ist ein spirituelles Objekt, bekannt in Benin und Nigeria, das dem Schutz der Menschen, der Allgemeinheit dient. Es gehört niemandem und ist immer draußen aufgestellt, es ist kein Dekoobjekt in irgendeinem Raum. Würde ich es in die Hand bekommen, würde ich es vielleicht in meinen Garten stellen, bis ich es zurückgeben kann, aber nicht in mein Wohnzimmer. Es geht also nicht nur darum, die Objekte einfach in afrikanische Länder zurückzuschicken, sondern um die Bedeutung des Objekts in der Gesellschaft zu klären. Denn Objekte, die vor 400 Jahren geraubt wurden, haben kaum Bedeutung für 18-Jährige vor Ort. Sowohl hier als auch in afrikanischen Ländern brauchen wir Aufklärung. Diese Debatte um Rückgaben wird sehr akademisch geführt. Aber die Menschen, die das Wissen vor Ort haben, sind kaum in diese Debatte involviert. Die meisten Leute, die noch die Bedeutung kennen, sind alte Leute, die die Kolonialsprachen nicht sprechen. Die wollen wir einbinden, sodass uns zum Beispiel ein 88-jähriger Mann aus einem Dorf in Kamerun so ein spirituelles Objekt erklärt. Die Schwarze Akademie soll in diesem Sinn auch als Brücke funktionieren.

Und wie kommt man an diese Menschen heran?

Diese Woche starten acht Praktikant*innen – vier aus Deutschland und vier aus Benin in unserem Büro in Cotonou. Sie werden gemeinsam mit unserem Team aus Benin internationale Workshops organisieren, um einen Austausch zu ermöglichen. Damit wollen wir älteren Menschen den Raum geben, ihr Wissen sichtbar zu machen. Wir jüngeren aus der Community stehen für eine Übersetzung zur Verfügung. Wir hoffen, dass dieses Angebot gut angenommen wird und auch auf andere Länder übertragen werden kann und wir damit ältere Menschen erreichen, in Südafrika, in Gambia, in Namibia und weltweit.

Zu Anfang hatten Sie eine alte Praxis angesprochen, um die Wälder zu schützen. Angesichts der Waldbrände ist das aktueller denn je. Existiert das Wissen darüber noch, wie das damals gemacht wurde?

Ja, definitiv, nur muss ein Zugang dazu geschaffen werden. Das braucht Zeit, wir werden nicht alles in diesem Jahr schaffen, was wir uns vorgenommen haben. Aber wir wollen uns auch der Geschichte vor der Kolonialzeit widmen. Wir wollen einen Wettbewerb starten und Leute bitten, uns Bilder und kurze Interviews über das Leben vor der Kolonialzeit zu schicken. Und zwar nicht nur in Afrika, sondern weltweit. Darüber wollen wir Schritt für Schritt verschiedenes Wissen destillieren – auch zum Naturschutz. Wie war das damals, was gibt es noch, was können wir daraus lernen? Wie wir im Moment mit der Natur umgehen, kann es nicht weitergehen. Uns ist klar, dass wir andere Konzepte und Methoden brauchen. Aber vielleicht gibt es sie schon – nur wir kennen sie nicht.

Beim Austausch mit Expert*innen aus dem globalen Süden tritt immer wieder das Problem auf, dass die Menschen keine Visa für Deutschland bekommen. Welche Rolle spielt die Migrationspolitik für die Dekolonisierung?

Wir können das Thema Migrationspolitik nicht von Wirtschaft und Bildung trennen. Wenn Länder die Unabhängigkeit haben, die sie brauchen, ändern sich bestimmte Machtverhältnisse. Wir sprechen über Krieg in Syrien, in der Ukraine, in Jemen. Wir sprechen aber weniger darüber, dass Deutschland zu den Top-Waffenverkäufern weltweit gehört. Waffen werden nicht verkauft, um Leben zu verdoppeln. Sie werden verkauft, um Leben abzuschaffen. Egal, ob es um »gute« oder »schlechte« Menschen geht. Aber natürlich profitieren wir alle hier davon, ohne darüber zu sprechen, worauf unser Wohlstand basiert. Ein weiteres Beispiel: Vierzehn afrikanische Länder gehören immer noch zur CFA-Franc-Zone, und nutzen eine Währung, die in der Kolonialzeit eingeführt worden ist. Wie kann man über Souveränität sprechen, wenn man keine Souveränität über die eigene Währung hat? Migrationspolitik hat auch mit politischer und wirtschaftlicher Souveränität zu tun. Solange wir das nicht erreichen, ist es so: Wer Macht hat, entscheidet darüber, ob du dein Land, deinen Kontinent überhaupt verlassen darfst. Das hat man jetzt bei den Flüchtlingen aus der Ukraine gesehen: Es ist richtig, dass sie willkommen geheißen wurden und sie schnell in der Gesellschaft ankommen können. Aber so sollte es für alle sein.

Aktuell wird in Kassel über Antisemitismus auf der Documenta gestritten. Ich glaube es ist unstrittig, dass die betreffenden Bilder eine antisemitische Bildsprache verwenden. Doch schon vor dieser Diskussion wurde den Kurator*innen Antisemitismus wegen der Nähe zur palästinensischen BDS-Bewegung vorgeworfen. Wie ist ihre Sicht auf die Debatte?

Ich glaube, in Deutschland werden zwei Debatten vermischt, die eigentlich nicht zusammen gehören. Das eine ist, Verantwortung für die eigenen Taten zu übernehmen und Antisemitismus zu benennen und zu bekämpfen. Das andere ist der Konflikt zwischen Israel und Palästina, wo es letztlich um Menschenrechte geht.

Und warum eigentlich Mannheim?

Mannheim war die erste Stadt, die zugehört hat, und es gab Menschen und Institutionen, die die Gründung der Schwarzen Akademie unterstützt haben. Aber das heißt nicht, dass wir nicht demnächst nach Berlin oder Bielefeld kommen. Generell finde ich es gut, wenn Institutionen – und auch Medien – solche Projekte aufgreifen, damit Menschen mit einer Unterdrückungsgeschichte mit der eigenen Stimme sprechen können.

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