Nur ein breites Bündnis kann Bolsonaro schlagen

In Brasilien hat sich eine neue Generation ihren politischen Platz erkämpft, darunter viele Frauen, Schwarze und Indigene. Mit ihnen keimt Hoffnung für die Linke

  • Niklas Franzen
  • Lesedauer: 6 Min.
Demonstration sozialer Bewegungen für Demokratie und gegen die Regierung Bolsonaro im August 2022 in Sao Paulo
Demonstration sozialer Bewegungen für Demokratie und gegen die Regierung Bolsonaro im August 2022 in Sao Paulo

In Lateinamerika waren Straßenproteste schon immer ein Indikator für die Stimmung der Bevölkerung und Vorboten politischer Umbrüche. Den Zustand der Linken kann man auch in Brasilien an ihrer Mobilisierungsfähigkeit ablesen. Trotz Bolsonaros Zerstörungskurses gelang es jedoch nicht, größere Proteste zu organisieren. Als die Regierung im Mai 2019 Kürzungen im Bildungsbereich ankündigte, gingen zwar überall im Land Hunderttausende auf die Straße. Die Wut war groß, denn Bildung ist ein wunder Punkt in Brasilien. Doch die Demonstrationen flauten schnell wieder ab. Auch die Proteste der antifaschistischen Fußballfans zu Beginn der Corona-Pandemie schafften es nicht, eine längerfristige Mobilisierung gegen die Regierung einzuleiten. Seitdem hat es kaum nennenswerte, größere Proteste gegeben. Wieso tut sich die Linke so schwer?

Landesweite Proteste hatten es in einem Land von der Größe Brasiliens schon immer nicht einfach. Der Norden und Süden sind nicht nur geografisch, sondern auch kulturell und politisch weit voneinander entfernt. Lokale Themen sind oft relevanter als die große Politik. Ein weiterer Grund: Die befürchtete Repressionswelle gegen Linke ist bislang zwar ausgeblieben, dennoch fürchten sich viele vor Polizeigewalt und bleiben Protesten fern. Teile der Linken sind zudem zerstritten.

Viele setzen alles auf die Kandidatur Luiz Inácio da Silvas, besser bekannt als Lula. Der sozialdemokratische Ex-Präsident wird im Oktober gegen Amtsinhaber Bolsonaro ins Rennen um die Präsidentschaft ziehen – und hat gute Chancen, die Wahl zu gewinnen. Lula weckt bei vielen Brasilianer*innen ein Gefühl von »saudade«, einer Sehnsucht nach besseren Zeiten. Bei seinem Amtsausstieg im Jahr 2011 lag seine Zustimmungsrate bei 82 Prozent. Und der ehemalige Gewerkschaftsführer ist tatsächlich eine Ausnahmeerscheinung und ein politisches Genie: Seine Rhetorik zieht in den Bann, sein Charme verführt, seine Lebensgeschichte bewegt. Das ist wichtig in einem Land, in dem die meisten Menschen unpolitisch sind und in dem man eher für eine Persönlichkeit als für ein Wahlprogramm stimmt.

Die Fronten sind verhärteter

Die Devise vieler Linker scheint nun zu sein: erst einmal Bolsonaro abwählen und dann weitersehen. Doch es ist eine Illusion zu glauben, dass Lula im Fall eines Wahlsiegs dort anknüpfen kann, wo er bei seinem Amtsende 2011 aufhörte. Die goldenen Zeiten sind vorbei, Brasilien hat sich verändert. Die Fronten sind verhärteter, die Gesellschaft ist gespalten, wirtschaftlich geht es dem Land schlecht. Und der Bolsonarismus ist gekommen, um zu bleiben. Lula wird viele Zugeständnisse an seine konservativen Partner*innen machen und im völlig zerstückelten Parlament hart um Mehrheiten kämpfen müssen.

Das weiß Lula und er tut, was er schon immer am besten konnte: seine Fühler in alle Richtungen ausstrecken. Am Morgen über ein besetztes Gebiet der linken Landlosenbewegung MST marschieren und am Nachmittag in der gläsernen Bankfiliale Kaffee trinken? Das ist kein Widerspruch für den Politiker der Arbeiterpartei PT. Bereits vor seiner ersten Wahl im Jahr 2002 legte er das Image des ruppigen Gewerkschaftsführers ab und suchte den großen Schulterschluss. Die Rechnung ging auf, er gewann die Wahl. Durch einen beispiellosen Rohstoffboom stiegen in seiner Amtszeit die Armen ein wenig auf und die Reichen wurden noch reicher.

Zuletzt sendete Lula ambivalente Signale. Er deutete an, die strengen Abtreibungsgesetze zu lockern, versprach, ein Indigenenministerium einzurichten und von der neoliberalen Sparpolitik abzurücken, sollte er gewählt werden. Außerdem holte er bei inhaltlichen Debatten soziale Bewegungen ins Boot. Zugleich nominierte er aber den konservativen Ex-Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin, als stellvertretenden Präsidentschaftskandidaten. Vielen Linken stößt die Personalie bitter auf, doch Alckmins Kandidatur war vor allem eine Botschaft an das bürgerliche Lager: Niemand muss Angst vor mir haben! Lula weiß, dass es ohne die konservative Mittelschicht schwer für ihn wird, die Wahl zu gewinnen.

Neue Gesichter prägen die politische Landschaft

Einige linke Analyst*innen bezeichnen seine Politik der »permanenten Versöhnung« als großen Fehler. Jene Kräfte, auf die er nun zugeht, hätten ihn beim letzten Mal abgesägt. Warum sollten sie das nicht noch einmal tun? Anderseits: Lula hat kaum eine andere Wahl, als ein breites Bündnis zu schmieden. In einem konservativen Land mit einer langen antikommunistischen Tradition kann zu viel Radikalität abschrecken. Besser mit einem moderaten Programm die Wahl zu gewinnen, meinen einige, als gar nicht zu regieren. Und auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen: Lulas Höhenflug in den Umfragen ist wahrlich kein Ausdruck für die Stärke der Linken. Der fehlt es an neuen Ideen und charismatischen Persönlichkeiten. Der 76-jährige Lula scheint tatsächlich die einzige Person zu sein, die es vermag, Bolsonaro in der Wahl zu schlagen.

Trotz zahlreicher Krisen hat es in den letzten Jahren viel Bewegung in der Linken gegeben. Eine neue Generation hat sich politisiert und selbstbewusst ihren Platz in der Politik erkämpft. Neue Gesichter prägen die politische Landschaft: Frauen, Schwarze, Indigene. Das kommt einer kleinen Revolution gleich in einem Land, in dem die meisten Politiker*innen immer noch männlich, weiß und wohlhabend sind. Bei der letzten Wahl zogen zudem 30 trans Politiker*innen im ganzen Land in die Lokalparlamente ein. Während in Europa emotional über den vermeintlichen Widerspruch zwischen Identitäts- und Klassenpolitik diskutiert wird, ist es für Brasiliens Linke normaler, verschiedene Kämpfe zusammenzuführen. Soziale Ungleichheit kritisieren, ohne Rassismus und Sexismus anzuprangern? Kaum vorstellbar. Fast alle Bewegungen haben Arbeitsgruppen für LGBTI. Feministische Kollektive solidarisieren sich mit streikenden Busfahrer*innen. Afrobrasilianische Gruppen weisen auf die Verbindung von Rassismus und Kapitalismus hin.

Die Arbeiterklasse hat sich überall verändert, auch in Brasilien. Heute ist es der Lieferant, der für einen Hungerlohn Essen durch die Städte fährt. Es ist die alleinerziehende schwarze Mutter, die Bonbons an Ampeln verkauft. Es sind die Mitarbeiter*innen von Callcentern oder Warenlagern. Die Linke braucht eine neue Erzählung, um diese Menschen zusammenzubringen. Sicherlich gibt es nicht die eine Wunderformel. Aber vielleicht ergibt sich gerade aus der Amtszeit Bolsonaros eine Möglichkeit, sich neu aufzustellen. Denn seine Amtszeit hinterlässt eine Spur der Zerstörung. Die Armut steigt immer weiter, der Hunger ist mit aller Wucht zurück, auch die Mittelschicht bekommt das zu spüren. Die Pandemie hat die Situation allenfalls verschlimmert.

Nicht wenige vermuten, dass die soziale Frage für das Land in den kommenden Jahren bestimmender sein wird als je zuvor. Das ist eine Chance für die Linke. Wenn sie die Bekämpfung der Ungleichheit ins Zentrum rückt, ohne den Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Homofeindlichkeit zu vernachlässigen, gibt es Grund zur Hoffnung.

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