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Schulstart im Mangelmodus
Nicht zuletzt Personalprobleme bestimmen das neue Schuljahr in Berlin mehr denn je
Sie finde ja, dass die Berliner Schulen und das große Engagement der Lehrkräfte »zu oft schlechtgeredet« werden, hatte Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) in der vergangenen Woche leicht tadelnd auf einer Pressekonferenz erklärt. Ihre Hauptbotschaft anlässlich des an diesem Montag startenden neuen Schuljahrs: Das Berliner Bildungssystem ist »grundsätzlich auf einem guten Weg«. Überhaupt, so Busse weiter, seien die Schulen der Hauptstadt zwar »mit großen Herausforderungen« konfrontiert, aber: »Das Schuljahr beginnt gut vorbereitet.«
Vor allem beginnt es mit Rekordzahlen. Nach Angaben der Bildungsverwaltung steigt die Zahl der Schülerinnen und Schüler an den allgemeinbildenden Schulen im Vergleich zum vergangenen Schuljahr um fast 7000 auf über 383.000, gut 1000 weitere, aus der Ukraine geflüchtete Kinder und Jugendliche stehen dazu noch unversorgt auf Wartelisten für einen Schulplatz. Hier fangen dann auch die Herausforderungen an. Realistischerweise sollte man von Problemen sprechen. Denn zum einen ist es jetzt schon in sehr vielen Schulen übervoll. Zum anderen aber geht die massiv gestiegene Schülerzahl mit einem eklatanten Lehrkräftemangel einher.
Busse zufolge lag der Einstellungsbedarf an den Schulen eigentlich bei 2645 unbefristeten Vollzeitstellen. Allein, die von der Senatorin gepriesene »unermüdliche und konsequente Fachkräftegewinnung« trägt nur bedingt Früchte. So sind an diesem Montag nach wie vor 875 Vollzeitstellen unbesetzt. Zum Vergleich: Zum letzten Stichtag am 1. November 2021 fehlten den Schulen etwas über 600 Vollzeitkräfte. Die Lage ist damit so kritisch wie seit Langem nicht.
»Natürlich sind 875 Vollzeitstellen viel«, sagt Busse. Aber auch hier mahnt sie eine positive Betrachtungsweise an. Schließlich war die Bildungsverwaltung noch im Mai davon ausgegangen, dass sich die Lehrkräfte-Lücke im neuen Schuljahr auf 920 Vollzeitstellen belaufen werde. Deshalb, sagt Busse nun, habe sie sich »selber auch sehr gefreut«, dass die Lücke »nicht ganz so hoch ist, wie ich das prognostiziert habe«. Und: »Es ist ja, Gott sei Dank, eine überschaubare Zahl.«
Bei der Berliner Bildungskampagne »Schule muss anders« nimmt man die fröhlich moderierte Mangelverwaltung mit Erschrecken zur Kenntnis. »Es klingt bei Frau Busse so, als würde alles ganz toll laufen. Tatsächlich haben wir eine dramatische Situation«, sagt Kampagnensprecher Philipp Dehne zu »nd«. Die Bildungssenatorin ignoriere dabei geflissentlich, dass der Personalmangel in letzter Konsequenz auch die Bildungsungerechtigkeit in der Stadt verschärfe. »Und wenn das Berliner Bildungssystem Kindern und Jugendlichen die Zukunftschancen klaut, kann ich nicht so tun, als wären wir auf einem guten Weg. Wir erwarten von der Senatsbildungsverwaltung, dass sie die Probleme benennt und nicht schönredet«, sagt Dehne.
Auch Tom Erdmann, Landeschef der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), spricht angesichts der Personalsituation von einer »bildungspolitischen Katastrophe«. Die Personaldecke an vielen Schulen sei »schon vorher immer auf Kante« gewesen. Jetzt gehe es aber ans Eingemachte. Denn statt der im Wahlkampf vergangenen Jahres von nahezu allen Parteien versprochenen Personalausstattung von mindestens 110 Prozent erreicht Berlin inzwischen gerade mal 98 Prozent, und das ist nur der stadtweite Durchschnitt. Vielerorts liegen Schulen deutlich darunter. »Das kann Frau Busse auch nicht weglächeln«, sagt Erdmann zu »nd«. Für die Lehrkräfte befürchtet der GEW-Chef, dass der akute Mangel zu »Mehrarbeit und Arbeitsverdichtung« führt.
»Befürchtungen kann man ja haben«, entgegnet Bildungssenatorin Busse, um dann zu beruhigen: »Die fehlenden 875 Vollzeitstellen werden nicht dafür sorgen, dass die Lehrerinnen und Lehrer zu Mehrarbeit verpflichtet werden. Warum auch? Die brauchen wir doch. Sie sollen ja gern zur Arbeit gehen.« Dafür werde man wohl oder übel Abstriche machen müssen beim pädagogischen Gesamtpaket. »Da muss ich als Schule gucken: Was findet vielleicht nicht statt? Das kann auch eine Arbeitsgemeinschaft sein.« Entscheidend sei lediglich, dass die Stundentafel, also die Anzahl der festgelegten Unterrichtsstunden, von dem Sparprogramm »unberührt« bleibe.
GEW-Chef Tom Erdmann sagt, für ihn sei klar, wohin die Reise nun gehen werde: »Die Schulen sich selbst zu überlassen, ist die einfachste Lösung für die Verwaltung. Das wird dann dazu führen, dass zuerst bei der Sonderpädagogik gestrichen wird.« Ähnlich sieht das Philipp Dehne von »Schule muss anders«. Der Bildungsaktivist kritisiert: »Eigenverantwortlichkeit ist ja im Grunde richtig. Aber dass die Schulen dabei gleichzeitig nicht an die Stundentafel randürfen, ist unverständlich und kann im Einzelfall kontraproduktiv sein.«
Wie es genau weitergehen soll, damit soll sich jetzt in der Bildungsverwaltung ein Runder Tisch beschäftigen. Noch vor den Sommerferien hatte der Landeselternausschuss eine solche Austauschmöglichkeit zum Umgang mit dem Lehrkräftemangel gefordert. Das Haus von Astrid-Sabine Busse gab der Forderung zwar nach, verpasste dem Runden Tisch aber den blumigeren Optimistentitel »Zukunft des Lernens und Lehrens«.
Landeselternsprecher Norman Heise hält sich mit Prognosen dann auch zurück. »Spannend wird, wie sich der Personalmangel an den Schulen auswirken wird«, sagt er zu »nd«. »Die Frage ist doch, was sind das für Zusatzangebote, die nun gestrichen werden? Das wird sich jetzt erst in den kommenden Wochen zeigen.«
Sorgen bereitet dem Elternvertreter auch ein anderer Punkt: die künftige Schulplatzsituation. Im aktuellen Entwurf der Senatsfinanzverwaltung für das Investitionsprogramm für die Jahre 2022 bis 2026 wurden, so Heise, nicht nur zahlreiche Schulsanierungen verschoben. Auch die temporären Ausweichorte für die Schulen, die doch saniert oder erweitert werden, sogenannte Drehscheiben, seien bezirksübergreifend »offenbar überall rausgeflogen«, sagt Heise. »Die Krux ist: Für Schulsanierungen brauche ich Drehscheibenkonzepte.«
Deutlicher wird Philipp Dehne: »Wir kritisieren ganz klar den Entwurf zum Investitionsprogramm, und diese Kritik richtet sich sowohl an Frau Busse als auch an Finanzsenator Daniel Wesener von den Grünen. Wer jetzt bei Schulsanierungen und Schulbau spart, nimmt wissentlich eine verstärkte Bildungsungerechtigkeit in Kauf.«
Die Finanzverwaltung verweist unterdessen beharrlich darauf, dass beim Schulbau mitnichten gespart wird. Vielmehr gebe man für diesen Bereich künftig mehr aus. Das Problem bei den meist in der Verantwortung der Bezirke liegenden Schulsanierungen sei aber, dass in dieser Hinsicht die Investitionsprogramme der vergangenen Jahre massiv überzeichnet gewesen seien. Bislang standen demnach viele Projektplanungen auf dem Papier, bei denen man davon ausgehen konnte, dass sie ohnehin erst später realisiert werden. Das habe man nun korrigiert, indem man offenkundig nicht vordringliche Projekte auf die Zeit nach 2026 verschoben habe. Im September will der Senat das Investitionsprogramm beschließen.
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