Umstrittene Anklage gegen Kirchner

Argentiniens Ex-Präsidentin soll wegen Korruption für zwölf Jahre ins Gefängnis

  • Jürgen Vogt, Buenos Aires
  • Lesedauer: 5 Min.

»Die Korruption war die Regel und der Rechtsstaat wurde ins Abseits gestellt«, sagte Staatsanwalt Diego Luciani am Montag in seinem Abschlussplädoyer. In dem öffentlichen Verfahren werden 51 Straßenbauarbeiten in der Provinz Santa Cruz verhandelt, deren Aufträge vor allem die Baufirma Austral Construcciones des Unternehmers Lázaro Báez in den Jahren 2003 bis 2015 von der Staatsregierung erhalten hatte. Dabei geht es um eine Summe von 46 Milliarden Peso, umgerechnet knapp eine Milliarde Euro.

Zu den insgesamt 13 Angeklagten gehören neben Cristina Kirchner ihr ehemaliger Planungsminister Julio de Vido, der frühere Staatssekretär José López, der ehemalige Leiter der nationalen Straßenbauverwaltung Nelson Periotti sowie der Bauunternehmer Lázaro Báez. Die übrigen acht Angeklagten sind niederrangige frühere Staatsangestellte. Die von der Staatsanwaltschaft geforderten Haftstrafen liegen zwischen zwei und zwölf Jahren.

Austral Construciones wurde wenige Monate vor dem Antritt von Néstor Kirchner als Staatspräsident im Mai 2003 von dem ehemaligen Bankangestellten Lázaro Báez gegründet. Báez, bar jeglicher Erfahrung in der Baubrache, avancierte während der Präsidentschaften von Néstor (2003-2007) und Cristina Kirchner (2007–2015) zum reichsten Bauunternehmer in Santa Cruz, der Heimatprovinz der Kirchners.

Die Staatsanwaltschaft vertritt eine klare These: Néstor Kirchner war der Kopf der Vereinigung und Báez nicht mehr als eine Strohfigur. Nach Kirchners Tod im Oktober 2010 habe dessen Ehefrau Cristina Kirchner die Führung übernommen. Kurz nach der verlorenen Präsidentschaftswahl 2015 hatte die Baufirma Konkurs angemeldet und sämtliche Beschäftigte fristlos entlassen. In einem anderen Verfahren war Báez im Februar 2021 zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden, da er die Herkunft seines angehäuften Reichtums nicht erklären konnte.

Zwar genießt Vizepräsidentin Cristina Kirchner Immunität. In Argentinien kann jedoch gegen alle Amtsträger*innen und Parlamentarier*innen ohne Aufhebung der Immunität ermittelt und ein Verfahren eingeleitet werden. Die Immunität schützt jedoch vor der Festnahme und im Fall einer Haftstrafe vor der Inhaftierung. Ein Schuldspruch hätte für Cristina Kirchner und die Regierung zunächst keine unmittelbaren Konsequenzen.

Die Regierung gab wenige Minuten nach dem Auftritt von Staatsanwalt Diego Luciani eine Erklärung ab, in der sie »die gerichtliche und mediale Verfolgung« gegen die derzeitige Vizepräsidentin verurteilte. Sie betonte, dass »keine der der ehemaligen Präsidentin zugeschriebenen Taten bewiesen wurden«. Präsident Alberto Fernández bekundete Kirchner »seine tiefste Zuneigung und Solidarität«.

Strafprozesse sind in Argentinien zweigeteilt. Im ersten Teil ermitteln Richter und Staatsanwaltschaft nichtöffentlich, ob ausreichend Beweise und Indizien vorliegen, um den mündlichen und öffentlichen Teil des Verfahrens einzuleiten. Nachdem 2018 die ausreichende Indizienlage von einem Richter festgestellt wurde, begann im Mai 2019 die mündliche Verhandlung vor dem 2. Bundesgericht in Buenos Aires.

Seit dem Beginn der Pandemie wird das Verfahren via Zoom geführt und ist – da öffentlich – über den Streamingkanal der Justizverwaltung live zu verfolgen. Die Prozesstage sind als Aufzeichnungen auf der Seite eingestellt. Bisher wurden über 100 Zeug*innen gehört. Seit Anfang August lassen die Plädoyers der beiden Staatsanwälte Diego Luciani und Sergio Mola die Wellen hochschlagen.

An neun Verhandlungstagen reihten sie ihre Beweiskette auf, die belegen soll, wie die Milliardenbeträge über fingierte Ausschreibungen, der Nichtumsetzung der Baumaßnahmen und mangelnder Kontrolle durch die zuständigen Behörden aus dem Staatshaushalt unrechtmäßig in die Kassen der Baufirmen geflossen sind.

Cristina Kirchners Anhängerschaft ist alarmiert. »Wir können nicht zulassen, dass Cristina verurteilt wird oder ins Gefängnis geht«, warnte Hebe de Bonafini, die Vorsitzende der Mütter der Plaza de Mayo am vergangenen Donnerstag. Die Vizepräsidentin müsse mit allen Mitteln verteidigt werden. »Es muss einen Volksaufstand geben. Wir sind Gerechtigkeit«, sagte Hebe de Bonafini und sprach damit für viele im Kirchnerlager.

Statt sich mit den Korruptionsvorwürfen auseinanderzusetzen, macht dort der Vorwurf des »Lawfare« die Runde. Lawfare – law und warfare – meint die politisch motivierte Verfolgung der linksprogressiven Regierungen der Nullerjahre mit Hilfe einer politisierten Justiz und der rechten Medien. Ein in Argentinien gängiges Konzept, da ein erheblicher Teil der Justiz sein Fähnchen nach dem aktuellen politischen Wind ausrichtet und Prozesse vorantreibt oder deren Akten in den Schubladen verstauben lässt.

»Dass Cristina Kirchner heute auf der Anklagebank sitzt, ist unserem Kampf zu verdanken, den wir lange Zeit allein führen mussten«, hält Paula Oliveto dagegen, Rechtsanwältin und Kongressabgeordnete der oppositionellen Coalición Cívica ARI. Mit wenigen Mitstreiter*innen hatte sie vor neun Jahren angefangen, Informationen zu sammeln und öffentlich zu machen, die schließlich zu dem Korruptionsprozess führten. »Heute kann die Gesellschaft sehen, dass wir nicht die Verrückten waren, als die wir damals hingestellt wurden«, so Oliveto.

Ob das Bundesgericht die Anklage der Bildung einer kriminellen Vereinigung und der Korruption als bewiesen ansehen wird, ist offen. Jetzt sind die Verteidiger*innen der 13 Angeklagten mit ihren Plädoyers an der Reihe. Danach haben die Angeklagten ein letztes Wort. All dies kann via Livestream mitverfolgt werden. Das Urteil wird nicht vor November erwartet.

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