»Die Unterschiede werden sich sogar verschärfen«

Frank Jäger, Sprecher der Erwerbsloseninitiative Tacheles, im Gespräch über die Mängel des geplanten Bürgergelds

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 4 Min.

Was kritisieren Sie am aktuellen Gesetzentwurf?

Die Änderungen, die unter dem Namen »Bürgergeld« eingebracht werden sollen, gehen nicht weit genug. Die Strukturprinzipien des Hartz-IV-Systems werden nicht verändert. Daher ist der vorliegende Entwurf auch nicht geeignet, Hartz IV zu überwinden, wie es von der Regierung vollmundig angekündigt wurde.

Interview

In einer umfangreichen Stellungnahme übt der Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles scharfe Kritik am Gesetzentwurf zum Bürgergeld. Darüber sprach Frank Jäger, Sprecher und Vorstand von Tacheles, mit Martin Höfig.

Was müsste Ihrer Meinung nach beim Bürgergeld denn konkret verändert beziehungsweise verbessert werden, um Hartz IV tatsächlich zu überwinden?

Verbesserungen müssen gleichermaßen allen Leistungsberechtigten zugutekommen und nicht nur auf bestimmte Gruppen beschränkt werden, wie im Entwurf vorgesehen. Die Leistungen zum Lebensunterhalt müssen zum Beispiel für alle erheblich angehoben werden, um das Existenzminimum sicherzustellen. Die angekündigte Erhöhung zum Jahreswechsel kommt zu spät und wird die über Jahre entstandene Lücke nicht schließen. Der Regelbedarf eines*r Alleinstehenden müsste, laut Berechnung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, aktuell 678 Euro betragen und nicht nur 449 Euro. Die Erstattung der Unterkunftskosten für Betroffene im Leistungsbezug ist seit Langem völlig unzureichend. Das belegen sogar die monatlichen Daten der Bundesagentur für Arbeit. Wer aus eigener Tasche für seine Wohnung draufzahlen muss, hat weniger zum Leben. Auch die dauerhaften Instrumente der Leistungskürzungen infolge von Darlehenstilgung und Aufrechnungen müssen wirksam begrenzt werden. Auch hier kommt es regelmäßig zur Unterschreitung des Existenzminimums.

Sie schreiben in Ihrer Stellungnahme, dass vor allem nichtdeutsche, alte, kranke und behinderte Menschen in dem Entwurf diskriminiert werden. Inwiefern?

Zum Beispiel sieht § 7 Abs. 1 SGB II im bisherigen Recht Ausschlüsse für bestimmte Gruppen nichtdeutscher Staatsangehöriger von den Leistungen des SGB II vor. Der Gesetzentwurf zum »Bürgergeld« plant hierzu keine Änderung, es wird an den diskriminierenden Regelungen der Leistungsausschlüsse für ausländische Personen mit rechtmäßigem Aufenthalt in Deutschland festgehalten. Und die Unterschiede zwischen der Grundsicherung für Arbeitssuchende und den Leistungen der Sozialhilfe für Alte und Kranke sowie Menschen mit Behinderung werden sich sogar verschärfen. Die Sozialhilfe wird von wesentlichen Änderungen, die tatsächlich zu einer Verbesserung führen werden, ausgespart.

Was sind Ihre konkreten Vorschläge, um diese Menschen besser zu unterstützen?

Neben den oben genannten Erhöhungen bei den Leistungen zum Lebensunterhalt und den Unterkunftskosten haben wir eine ganze Reihe von Korrekturen im Leistungsrecht vorgeschlagen, die sich im Alltag auswirken werden: Etwa bei der Anrechnung von Einkommen, der Begrenzung von Rückforderungen und Tilgungsleistungen und bei der Berücksichtigung von Vermögen. Dann haben wir das Augenmerk darauf gelegt, die konsequente Schlechterstellung der Menschen in der Sozialhilfe zu beseitigen.

Inwiefern – wenn überhaupt – trägt der Entwurf den aktuellen extremen Preissteigerungen und der Explosion bei den Energiekosten Rechnung?

Der jetzige Gesetzentwurf berücksichtigt die aktuelle Preissteigerung in keiner Silbe. Bundesminister Hubertus Heil hat angekündigt, diese Preissteigerung im Rahmen der regulären Regelsatzanpassung zum Jahreswechsel zu berücksichtigen. Hier gibt es jedoch gesetzlich vorgegebene Maßstäbe für eine Anpassung der Leistung an gestiegene Löhne und Preise, die der aktuellen Problematik nicht gerecht werden. Es ist derzeit nicht abzusehen, dass sich der Minister über diese Regeln hinwegsetzen wird. Wir rechnen damit, dass mit der kommenden Anpassung die inzwischen klaffende Lücke zum Existenzminimum nicht geschlossen werden wird.

Bringt das Bürgergeld also tatsächlich keinen Fortschritt gegenüber Hartz IV? Ist es letztlich sogar nur Augenwischerei?

Einige Verbesserungen im Detail können wir schon erkennen. Jedoch kann die Einführung neuer Begriffe wie Kooperationsplan, Karenzzeit oder Vertrauensphase nicht darüber hinwegtäuschen, dass an den bisherigen Hartz-IV-Prinzipien festgehalten wird. Zumal der Gesetzesentwurf nichts über die Finanzierung der Leistungen enthält, und die ist entscheidend, um spürbare Verbesserungen zu ermöglichen.

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