Das kollektive Seelenpflaster

Sommerliche Welt- und Europameisterschaften

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 2 Min.
Vier Wochen lang sorgen die Welt- und Europameisterschaften für jenen emotionalen Ausnahmezustand, der die innere Leere in Zeiten des Leerlaufs zu übertünchen vermag.
Vier Wochen lang sorgen die Welt- und Europameisterschaften für jenen emotionalen Ausnahmezustand, der die innere Leere in Zeiten des Leerlaufs zu übertünchen vermag.

Es ist keine neue Erkenntnis: Bei hochsommerlichen Temperaturen sollten körperliche Anstrengungen vermieden werden. Seit Jahrzehnten warnen Mediziner davor, sich in der prallen Mittagssonne sportlich zu betätigen.

Eine der größten Verbrecherorganisationen der Welt, die Fifa, hat dies noch nie bekümmert. Regelmäßig lässt sie WM-Spiele in Nord- oder Südamerika dann beginnen, wenn die Sonne im Zenit steht. Das ist gut für europäische Fernsehzuschauer, die dank der Zeitverschiebung in den Genuss abendlicher Fußballübertragungen kommen. Und schlecht für die Akteure auf dem schattenfreien Rasen, die am Rande von Hitzschlag und Sonnenstich kicken.

Doch auch Europameisterschaften und WM-Turniere auf dem heimischen Kontinent verlangen Sauna- und Sahara-Abhärtung. Da zu viele Teams in zu kurzer Zeit aufeinandertreffen (die Geldgeilheit von Fifa und Uefa hat zu einer Aufblähung des Spielplans geführt), finden viele Paarungen um 15 oder 18 Uhr statt. Immerhin: So ist gewährleistet, dass selbst öde Kicks das Prädikat »hitzig« verdienen.

Aber selbst für Fernsehzuschauer in klimatisierten Wohnzimmern ist eine WM oder EM eine Extremerfahrung. Der typische Sommer kann, seien wir ehrlich, eine ziemlich langatmige und langweilige Angelegenheit sein. Siesta – das gelassene, kontemplative Innehalten – liegt uns umtriebigen Deutschen nicht. Als »rasende Mitläufer« (Christian Schultz-Gerstein) benötigen wir die Illusion, rund um die Uhr ein aktives Leben zu führen. Und sei es auch nur, indem wir die Fußballberichterstattung intensiv verfolgen.

Die zweimonatige Sommerpause der Bundesliga stürzt daher nicht wenige in eine existenzielle Krise, weil einer der Stützpfeiler der Freizeitgestaltung wegfällt. Hier schaffen WM und EM – zumindest in geraden Jahren – Linderung. Vier Wochen lang sorgen sie für jenen emotionalen Ausnahmezustand, der die innere Leere in Zeiten des Leerlaufs zu übertünchen vermag. Mit einem Mal werden Begegnungen wie Uruguay gegen Saudi-Arabien, Costa Rica gegen Serbien und Panama gegen Tunesien sinnstiftend.

Den Rest besorgt das Bier. Mit ausreichend Bölkstoff lässt sich selbst einem schläfrigen Sommerkick wie Japan gegen Polen (Temperatur im Schatten: 36 Grad) noch etwas Positives abgewinnen. Und spätestens ab der K.-o.-Phase wird aus der simulierten Erregung echte Begeisterung. So bringen Welt- und Europameisterschaften jeden zweiten Sommer den Seelenhaushalt einer ganzen Nation ins Gleichgewicht.

Schon deshalb ist die Verlegung der Fußball-WM 2022 in den Winter ein volkspsychologisches Desaster. Kein Medienspektakel, welches das kollektive innere Sommerloch füllt. In der Adventszeit hingegen – zwischen hektischen Weihnachtseinkäufen, Jahresendfieber im Büro und schmerzvollen Glühweinbesäufnissen – brauchen die Menschen kein zusätzliches Großereignis. Da drehen sie auch ohne WM schon am Rad.

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