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- Vertrauensstudie 2022
Skepsis schlägt in Misstrauen um
»Vertrauensstudie« untersucht Verschwörungsneigung von Jugendlichen
Bernd Siggelkow kann in unzähligen Beispielen darüber berichten, wie Kinder und Jugendliche nicht mehr an sich selbst glaubten, anderen misstrauten und am Ende keine Hoffnung in ihre und die allgemeine Zukunft besäßen. Als Gründer und Leiter des Kinder-und Jugendwerks »Die Arche« hat er täglich mit solchen Fällen zu tun. Siggelkow erzählt von einem Jungen, der beim Fußballspielen den Ball verfehlt, sich daraufhin zu Boden geworfen und schreiend behauptet habe, er könne nichts und werde im Leben niemals jemand werden. Solche Haltungen entstünden, wenn Kinder aus ihrem Umfeld permanent gespiegelt bekämen, wie unfair die Gesellschaft sein könne, so Siggelkow. »Wir sehen immer wieder, wie Kinder und Jugendliche sich zurückziehen, wenig vertrauen und mit starken Ängsten kämpfen.«
Der Leiter der »Arche« berichtet damit aus seiner täglichen Praxis über das, was der Erziehungswissenschaftler Holger Ziegler von der Universität Bielefeld mit der »Vertrauensstudie 2022« im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung untersucht hat. Für die Studie wurden bundesweit mehr als 1500 Kinder und Jugendliche befragt. Demnach hängen mangelndes Selbstvertrauen, fehlendes Vertrauen gegenüber anderen Menschen und Institutionen sowie die Neigung, an Verschwörungserzählungen zu glauben, eng miteinander zusammen.
Eine gesunde Skepsis »ist sinnvoll und nützlich im Leben«, erklärt Ziegler. Schwierig werde es jedoch dann, wenn daraus die Überzeugung entstehe, andere Menschen und Institutionen wollten einem grundsätzlich schaden. Diese problematische Haltung sei unter Jugendlichen weit verbreitet, warnt der Forscher. In der Befragung gaben zwei Drittel der Jugendlichen an, anderen Menschen nicht zu vertrauen. »Dieses Ergebnis halten wir für alarmierend«, so Ziegler am Dienstag bei der Vorstellung der Studie. Er warnt, dass sich diese Einstellung auch auf das Vertrauen gegenüber gesellschaftlichen Institutionen auswirke. »Das eklatante Misstrauen der Jugendlichen überträgt sich in Teilen auf die Medien, verbunden mit der Annahme, dass diese absichtlich Informationen verschweigen oder nur ihre eigene Meinung verbreiten.« Die Studienergebnisse sind teilweise alarmierend: Mehr als 71 Prozent der befragten Jugendlichen geben an, kein Vertrauen in Journalisten*innen zu haben, 55 Prozent sagen dies über Gewerkschaften und weitere 46 Prozent über die Bundesregierung. Wissenschaftler*innen genießen dagegen großes Vertrauen (76 Prozent), ebenso Gerichte (76 Prozent) und die Polizei (79 Prozent).
Kritisch ist laut Studie, dass bei mehr als einem Drittel der befragten Jugendlichen eine starke Anfälligkeit für Verschwörungsgedanken zu beobachten sei. Ursachen und verstärkende Faktoren gibt es laut der Untersuchung mehrere. Eine wesentliche Rolle spielt das Elternhaus: Wachsen die Jugendlichen in Haushalten auf, in denen öffentliche Einrichtungen nicht vertraut wird, ist auch beim Nachwuchs eine Tendenz zur Verschwörungsneigung erkennbar. Gleiches gilt, wenn in Familien die Meinung der Jugendlichen kaum eine Rolle spielt oder Heranwachsende das Gefühl haben, den Ansprüchen ihrer Eltern nicht gerecht zu werden. Kommen im Haushalt noch soziale Probleme, Armut und geringe Bildungschancen hinzu, ist die Tendenz von Jugendlichen zur Verschwörungsneigung mit 38 Prozent besonders groß, während diese in Haushalten mit einem überdurchschnittlichen sozioökonomischen Status mit neun Prozent deutlich geringer ausfällt. Ebenfalls eine Rolle spielt, ob Jugendliche ihre Informationen fast nur oder ausschließlich über soziale Medien beziehen oder auch andere Quellen nutzen. Keine großen Unterschiede in den Antworten konnten die Forscher*innen dagegen bei Jugendlichen in der Stadt und auf dem Land sowie im Vergleich zwischen West- und Ostdeutschland feststellen.
Auffällig ist laut Ziegler die weit verbreitete pessimistische Haltung vieler Jugendlicher mit Blick auf gesellschaftliche Herausforderungen. Nur 19 Prozent sehen in der Gesellschaft eine positive Weiterentwicklung, über 34 Prozent bewerten die generelle Zukunft negativ. »Wir sehen hier eine bemerkenswerte und auch besorgniserregende Entwicklung«, so Studienleiter Ziegler. Er warnt: »Jugendliche vertrauen nur sehr begrenzt in die Lösungskompetenz der Gesellschaft. Wer aber den Glauben an die Gemeinschaft verliert, zieht sich zurück und resigniert.«
Siggelkow befürchtet, Misstrauen und Verschwörungsneigung könnten unter Jugendlichen in Zukunft noch zunehmen. »Die Erfahrung einer weltweiten Corona-Pandemie und der wirtschaftliche Druck, der auf Familien durch die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten lastet, bringen alle Beteiligten an die Belastungsgrenze.«
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