- Berlin
- KZ Oranienburg
58 Minuten lang durch die Nazizeit
Hörspaziergang zum frühen Konzentrationslager Oranienburg vorgestellt und ab sofort verfügbar
»Misstraut den Grünanlagen«, zitiert Henning Schluß den Schriftsteller Heinz Knobloch (1926-2003). Denn der Park könnte ein in der Nazizeit eingeebneter jüdischer Friedhof sein. Auch vom KZ Oranienburg, untergebracht in einer ehemaligen Brauerei an der Berliner Straße, ist abgesehen von einer Brandmauer nichts übrig geblieben. Immerhin erinnert eine zu DDR-Zeiten angebrachte Gedenktafel daran, dass sich hier früher eines der ersten faschistischen Konzentrationslager Deutschlands befand.
»Sollen wir überhaupt an einen solchen Ort des Schreckens erinnern?« Solle man nicht froh sein, dass davon nicht mehr viel zu sehen sei? Diese Fragen stellt Schluß am Freitagmorgen und gibt die Antwort gleich selbst: »Wir haben gelernt, dass der Spruch ›aus den Augen, aus dem Sinn‹ für solche Orte des Terrors nicht gilt.«
Ab sofort gibt es nun einen Audiowalk, also einen Hörspaziergang, der am Schlossplatz startet. Wie bei einem Audioguide in einem Museum wird Interessierten die Geschichte des Lagers in einer Art Hörspiel erzählt. Ihnen wird auch gesagt, wo sie dabei entlangzugehen haben. Man kann die 58 Minuten auf dem eigenen Smartphone anhören oder aber die Technik in der Touristeninformation ausleihen, die praktischerweise am Schlossplatz sitzt. Sechs Geräte liegen dort bereit. Auch wenn der Audiowalk davon lebt, dass man durch die Straßen zu den Originalschauplätzen läuft, ist die Anreise nach Oranienburg nicht unbedingt erforderlich. Denn die Datei kann im Internet unter sachsenhausen-sbg.de heruntergeladen und überall abgehört werden. Auch ohne die eigene Anschauung erfährt man dabei noch viel.
Paulina Rübenstahl, die den Audiowalk zusammen mit Frederike Moormann produziert hat, verspricht bei der Vorstellung am Freitagmorgen »eine künstlerische Annäherung an den Raum und an die Geschichte«. Das beschränkt sich nicht auf das KZ. Die SA wütete einst auch an anderer Stelle, überfiel etwa unweit des Schlossplatzes ein Stammlokal der Kommunisten an der Breiten Straße. Heute befindet sich dort der Dönerimbiss »Carollis«. Nachdem dieser Überfall bei der ersten Station des Audiowalk atmosphärisch nachempfunden worden ist, geht es weiter zur Havelstraße mit einer Hinweistafel auf die Synagoge, zu deren Bau die jüdische Gemeinde 1838 die Erlaubnis erhalten hatte. 100 Jahre später verwüsteten und schändeten SA-Leute und andere Faschisten die Synagoge in der Reichspogromnacht. Bei einem Bombenangriff am 6. März 1944 fiel das Gebäude in Schutt und Asche. Von ihm ist noch weniger übrig als vom KZ Oranienburg. Ein Stück weiter erinnert ein kleiner Ehrenhain an die 38 Juden der Stadt, die in den Jahren 1933 bis 1945 in Konzentrationslagern und Ghettos ihr Leben ließen oder weit weg in der Emigration starben. Da stehen etwa die Namen von Berta und Samuel Lauter, die im Alter von 74 Jahren im KZ Theresienstadt starben, aber auch die von Horst und Sacher Ludwig, die erst acht und zwei Jahre alt waren, als sie in Riga umkamen. Zwischendurch gehen Frederike Moormann und Paulina Rübenstahl auch auf rechte Gewalt der 1990er Jahre ein.
Im Kern dreht es sich allerdings um das KZ Oranienburg. Dorthin verschleppte die SA-Standarte 208 am 21. März 1933 die ersten 40 Kommunisten, denen unterstellt wurde, sie hätten einen Bandanschlag auf eine Lungenheilstätte verübt. Die Einlieferung erfolgte nicht etwa in aller Stille. »Jeder und jede sollte mitkriegen, was dort geschah«, informiert die Sprecherin des Audiowalk. Der Terror war kein Geheimnis. Er diente der Einschüchterung von politischen Gegnern. Es wurden sogar noch Besucher aus dem In- und Ausland herumgeführt. Die Presse veröffentlichte zahlreiche Berichte und Reportagen. In 5000 Kinos liefen in der Wochenschau Filmaufnahmen aus diesem KZ.
Im Juli 1934 übernahm die SS das Lager und löste es auf. Bis dahin wurden hier insgesamt 3000 Häftlinge gequält und mindestens 16 von ihnen ermordet. Zu den Todesopfern gehörte der anarchistische Schriftsteller Erich Mühsam, an den am Ort des Verbrechens ein Gedenkstein erinnert. Oft wird das KZ Oranienburg mit dem KZ Sachsenhausen verwechselt, das aber erst 1936 in derselben Stadt, jedoch an anderer Stelle errichtet wurde. In Sachsenhausen residierte Theodor Eicke, Inspekteur aller Konzentrationslager, der die KZ-Kommandanten regelmäßig zu Besprechungen einbestellte. Bei solchen Gelegenheiten tauschte man sich später unter seinem Nachfolger Richard Glücks etwa über die effektivsten Methoden zur Ermordung von Juden und sowjetischen Kriegsgefangenen aus, besichtigte dazu auch die Genickschussanlage von Sachsenhausen.
Sachsenhausen ist seit 1961 Gedenkstätte. Die alte Brauerei dagegen, die als KZ Oranienburg diente, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Auf dem Gelände entstanden Büros und Garagen der DDR-Volkspolizei. 2017 zog die Polizeiinspektion um auf den modern hergerichteten Luisenhof von Oranienburg. Am alten Standort hatte es schon durchgeregnet.
2019 fasste das Land Brandenburg den Plan, auf der frei gewordenen Fläche an der Berliner Straße für elf Millionen Euro ein Wohnheim für die Hochschule der Polizei zu bauen. Prompt führte das in der Medienberichterstattung wieder zu der üblichen Verwechselung. So wie die Hochschule selbst – bei der es stimmt –, solle auch das Wohnheim auf einem Areal unterkommen, das ehedem zum KZ-Komplex von Sachsenhausen gehört habe, hieß es fälschlicherweise.
Vor Ort wissen sie es besser und so fand sich ein Initiativkreis zusammen, um darüber nachzudenken, wie die Gelegenheit genutzt werden könnte, Spuren zu suchen und einen Erinnerungsort zu schaffen. Verdient gemacht hat sich da der Landtagsabgeordnete Björn Lüttmann (SPD). Auch die frühere Landtagsabgeordnete Gerrit Große (Linke) brachte sich ein. Beim Audiowalk hatte Schluß den Hut auf. Das Potsdamer Kulturministerium förderte das Vorhaben – und Ministerin Manja Schüle (SPD) gehört am Freitag zu den ersten, die sich das Ergebnis anhörten. Die Stiftung brandenburgische Gedenkstätten unterstützte das Vorhaben, indem sie einen Historiker als Berater in das Projektteam entsandte. Wie viel Arbeit das alles mache, habe am Anfang wohl niemand gedacht, und es habe nur eine »kleine Aufwandsentschädigung« gegeben, berichtet Schluß. Ohne großes persönliches Engagement wäre es nicht so gut gelungen.
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