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Schlechte Stimmung im Rathaus
Perleberg will nicht von Wittenberge abgehängt werden – der neue Bürgermeister soll es richten
Am Bahnhof von Perleberg (Prignitz) sitzen am Mittwochabend Bier trinkend junge Leute, die Mädchen auf dem Schoß der Jungen. Sie haben im Kopf, wann die Züge eintreffen und wohin sie fahren. Doch als um 21.16 Uhr die Regionalbahn nach Berlin-Gesundbrunnen einrollt, steigen sie nicht ein. Sie wollen nirgendwohin. Sie treffen sich hier einfach. Denn in Perleberg fehlt es an Freizeitmöglichkeiten für Jugendliche. Heranwachsende hocken deshalb manchmal bis spät in die Nacht auf Kinderspielplätzen. Dann beschweren sich Anwohner über die Ruhestörung.
Der Landtagsabgeordnete Thomas Domres (Linke) kennt das Problem. Wenn er aus der Bürgermeisterwahl am 18. September als Sieger hervorgehen würde, hätte er einen Lösungsansatz, der sich bürokratisch anhört, aber zutiefst demokratisch ist. Er würde einen neuen Anlauf nehmen, einen Kinder- und Jugendbeirat zu schaffen. Die junge Generation soll selbst sagen, was sie sich wünscht. Dass dies bisher nicht gelang, schreckt Domres nicht ab. Nach der brandenburgischen Kommunalverfassung sei die Stadt sogar verpflichtet, Kinder und Jugendliche zu beteiligen. In Rathenow etwa funktioniere das doch auch. Domres sagt das am Mittwochabend in der Scheune des Tierparks von Perleberg. Dort präsentieren sich zwei Männer und drei Frauen, die bei der Bürgermeisterwahl am 18. September antreten. Vom Publikum aus gesehen sitzt Domres ganz links. Neben ihm ist nur noch die Wand. Doch im Landtag ist er nie als Radikaler in Erscheinung getreten. So sagt er auch hier im Tierpark: »Wer mich kennt, weiß, dass ich sehr pragmatisch arbeiten kann, dass ich auch fraktionsübergreifend arbeiten kann.«
Es gab in Perleberg schon zwei parteilose Bürgermeister, die für die Linke angetreten waren: Manfred Herzberg von 2004 bis 2007, der gestorben ist, und anschließend bis 2015 Fred Fischer, der nach Stasi-Vorwürfen abgewählt wurde. Jetzt probiert es die Partei mit ihrem Genossen Thomas Domres, dem einzigen Berufspolitiker unter den fünf Kandidaten. Zusätzlich ist der gelernte Altenpfleger seit 1993 Stadtverordneter und kennt sich also in der Kommune bestens aus. Er kann die genaue Einwohnerzahl nennen, als über den Bevölkerungsschwund gesprochen wird: Exakt 12 007 Einwohner seien es mit Stand 31. Dezember gewesen. Das ist nichts im Vergleich mit anderen Kreisstädten in Brandenburg. Aber die Prignitz ist nun einmal dünn besiedelt, über weite Strecken sogar unbewohnt.
Eingeladen zum Dialog mit den Bürgermeisterkandidaten hat die Wirtschaftsinitiative Westprignitz. Doch nach der Wirtschaftsförderung erkundigt sich Moderator Hanno Taufenbach erst zuletzt, bevor das Publikum seine Fragen anbringen darf. Denn die Stimmung in der Stadtverwaltung und die medizinische Versorgung, das interessiert die anwesenden Unternehmer genauso. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen.
»Die Stimmung ist schlecht im Rathaus«, bedauert Axel Schmidt, Leiter des Jobcenters im Nachbarlandkreis Ostprignitz-Ruppin und von CDU und FDP gemeinsam ins Rennen um den Bürgermeisterposten geschickt. Ex-Bundeswehroffizier Schmidt hat gehört, dass einige in der Stadtverwaltung nur noch »Dienst nach Vorschrift« machen. Dabei sei die Kommune doch angewiesen auf motivierte Mitarbeiter. SPD-Kandidatin Nadja Schwark würde sich als Bürgermeisterin zunächst eine eigene Meinung zur Atmosphäre im Rathaus bilden wollen. Mit dem Satz, sie müsse erst einmal schauen, kommt sie an diesem Abend noch öfter. Was die Stadtverwaltung betrifft, so hatte Schwark allerdings den Eindruck, dass die Mitarbeiter doch recht fröhlich sind, als sie einmal als Bürgerin mit einem Anliegen kam. Andererseits: Schwark ist Unternehmensberaterin, und Investoren erzählten ihr, sie hätten sich im 14 Kilometer entfernten Wittenberge willkommener gefühlt als in Perleberg.
Beide Städte unterhalten eine gemeinsame Wirtschaftsförderung, das Technologie- und Gründerzentrum (TGZ) mit Sitz in Wittenberge. Dass sich beide Kommunen die Kosten teilen, aber für Perleberg dabei weniger herausspringe, stört den Kandidaten Schmidt. Die Wirtschaftsförderung sollte auch einen Sitz in Perleberg haben und nicht nur alle Monate mal vorbeischauen, denkt er. Auch Kandidatin Kornelia Britz (Freie Wähler) hörte von enttäuschten Bürgern: »Warum tut sich immer etwas für Wittenberge und für Perleberg nicht?« Es könne zwar durchaus mal sein, dass bei einer Ansiedlung etwas schiefgeht, aber man müsse dann doch auch Erfolge sehen, findet Britz, die als Verwaltungsbeamtin bei der Bundeswehr beschäftigt ist.
Damit stehen Britz und Schmidt aber allein. »Es gibt nichts, was man nicht besser machen kann«, sagt Politiker Domres. »Aber ich teile nicht die Ansicht, dass Perleberg untergebuttert wird.« Unternehmensberaterin Schwark, die mit dem TGZ zusammenarbeitet, beteuert, dass auch für Perleberg Ansiedlungen zu verzeichnen seien und nennt ein Düngemittelwerk. Einzelbewerberin Mandy Peters kann als positives Beispiel herhalten. Sie wohnt in Wittenberge und hat als Physiotherapeutin ihre Praxis in Perleberg. Als sie sich vor Jahren selbstständig machte, fühlte sie sich vom TGZ gut betreut. Man müsse schauen, woran es wirklich liegt, wenn Firmen lieber nach Wittenberge gehen als nach Perleberg, meint Peters. Wittenberges großes Plus sind die Bahnverbindungen. Man ist in einer Stunde in Hamburg und in weniger als anderthalb Stunden in der Berliner Innenstadt. Von Perleberg aus muss man in Wittenberge umsteigen oder den wenig attraktiven Bummelzug in die Hauptstadt nehmen, der mehr als zweieinhalb Stunden braucht und außerhalb der City endet.
Keinen Widerspruch erntet Kandidat Schmidt für seine entnervte Frage: »Ich weiß nicht, ob wir die einzige Stadt sind, die kein professionelles Fördermittelmanagement hat?« Es gebe doch für alle möglichen Dinge Zuschüsse, die nur beantragt werden müssten. Wittenberge ziehe mehr Fördermittel an Land. Sozialist Domres weiß dazu ein Beispiel: »Der Bund förderte Klima- und Energieberater. Haben wir nicht, obwohl wir sie dringend brauchen.«
Viele Vergleiche mit Wittenberge bieten sich an. In den 1990er Jahren war Wittenberge gezeichnet vom Zusammenbruch seiner Industriebetriebe, insbesondere des Nähmaschinenwerks. Es grassierten Massenarbeitslosigkeit und Abwanderung, das Bahnhofsviertel präsentierte sich als halbe Ruinenlandschaft. Perleberg dagegen profitierte von Kreisverwaltung und Kreiskrankenhaus. Inzwischen ging es in Wittenberge steil bergauf und in Perleberg nur langsam. Zwischen den hübsch sanierten Häuschen in der Altstadt gibt es viel Leerstand und manchen Schandfleck.
Dass jetzt angesichts der Energiepreisexplosion Händler zögern, einen Laden zu eröffnen, wundert Kornelia Britz von den Freien Wählern kein bisschen. In der Corona-Krise sind viele Kunden dazu übergegangen, Waren bequem im Internet zu bestellen. Doch alte Leute haben oft kein Internet und wollen lieber in ein Geschäft gehen. Sie beklagten sich bei Britz, man könne »nicht einmal einen Schlüpfer kaufen«. Allerdings hat Perleberg jüngst wieder ein Geschäft für Unterwäsche erhalten – und damit Wittenberge wenigstens in dieser Hinsicht etwas voraus.
Der Bürgermeisterposten ist vakant, weil Rathauschefin Annett Jura (SPD) ins Bundesbauministerium wechselte. Erreicht am 18. September niemand eine absolute Mehrheit, entscheidet am 9. Oktober eine Stichwahl.
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