Bolsonaro kapert Unabhängigkeitstag

Brasiliens Präsident entfremdet den Feiertag zu Wahlkampfzwecken

  • Carsten Wolf, Rio de Janeiro
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Loopings seiner Fliegerstaffel interessierten ihn wenig. Noch vor dem Ende der Flugshow verließ Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro die Bühne – und ließ Generäle und Politiker sitzen. Er eilte zu seinen Anhänger*innen, die zu Zehntausenden gekommen waren. Schließlich ist Wahlkampf in Brasilien. Und Bolsonaro liegt in den Umfragen hinten.

Die Feierlichkeiten zum 200. Unabhängigkeitstag Brasiliens waren lange geplant gewesen. Ganz kurzfristig verlegte der Präsident die übliche Militärparade von Rios Innenstadt an den weltberühmten Strand der Copacabana. Vermutlich, um bessere Bilder für seine Wahlkampagne zu erzeugen. Außerdem fuhren am Mittwoch dort riesige Lautsprecherwagen auf, aus denen Bolsonaros Wahlkampfhymnen schepperten.

Schon vor dem Unabhängigkeitstag war die Stimmung angespannt. Bolsonaro lag in den Umfragen hinten, meist mehr als zehn Prozentpunkte hinter seinem Herausforderer, dem Ex-Präsidenten Lula da Silva. Seine Anhänger*innen fanden, ihr Präsident werde im Wahlkampf benachteiligt. In der Justiz, in den Medien, überall säßen »Kommunisten«. Dagegen mobilisierten sie im ganzen Land. In Chatgruppen fantasierten sie vom Putsch am Feiertag. Sie forderten einen »zweiten Unabhängigkeitstag« und zwar »jetzt oder nie«.

Der Präsident heizte die Stimmung weiter an. Er bezeichnete das Verfassungsgericht als »Banditen« und die oberste Wahlbehörde als »Penner«. Seine Anhänger*innen fordert er auf, gegen sie zu demonstrieren – und zwar »zum letzten Mal«. Solche Übertreibungen sind typisch für den wichtigsten Rechtspopulisten Südamerikas. Aber selbst erfahrene Politik-Experten waren sich nicht sicher, wie weit er dieses Mal gehen würde.

Am Unabhängigkeitstag spricht Bolsonaro zuerst in der Hauptstadt Brasília und fliegt dann nach Rio. An der Copacabana versammeln sich da bereits Zehntausende Menschen. Die meisten wegen Bolsonaro, einige für die traditionelle Militärparade. Organisiert haben sich viele über Telegram-Kanäle, aus denen sie ihre ganzen Informationen beziehen. Klassischen Medien vertrauen hier nur noch wenige – ähnlich wie bei Trump in den USA.

Kurz nach der Parade steht Bolsonaro mitten in der Menschenmenge auf einem Lautsprecherwagen. In alle vier Richtungen hält er seine Rede, die weniger radikal ist als viele befürchtet hatten. Er spricht sich gegen Abtreibungen aus, gegen »Gender-Ideologie« und »Kommunisten« und für die »Familie« und den »christlichen Glauben«. Anders als sonst nennt er seine politischen Gegner nicht beim Namen, sondern warnt allgemein vor den »Dieben«. Auch das brasilianische Wahlsystem stellt er dieses Mal nicht infrage.

Beim Thema »Corona-Pandemie« bleibt Bolsonaro vage. Brasilien sei mit seiner Corona-Politik weltweit »eine Referenz«. Das stimmt, aber eher im Negativen: Mit knapp 700 000 Corona-Toten gehört Brasilien zu den Ländern, die von der Pandemie am schlimmsten getroffen wurden. Auch zum Thema Korruption sagt Bolsonaro wenig Konkretes. Erst vor Kurzem war bekannt geworden, dass Bolsonaros Familie mehr als 50 Immobilien im Wert von 4,9 Millionen Euro mit Bargeld gekauft hat. Seine Anhänger*innen stören solche Ungereimtheiten am Mittwoch nicht.

Nach seiner Rede läuft Bolsonaro durch die Menge, macht Selfies, schüttelt Hände. So volksnah zeigen sich wenige Politiker. Das kommt an: »Er ist einer von uns, er vertraut uns und er wird gewinnen«, sagt die 54-jährige Rentnerin Marcia Ribeiro. Glaubt sie an einen Putsch? »Nein. Wenn er verliert, dann wird er das Ergebnis respektieren.« Bolsonaros etwas friedlicherer Ton kommt am Mittwoch jedenfalls gut an. Rund 65 000 Menschen feiern ihn an der Copacabana, etwa 100 000 vorher in Brasília, laut Medien-Schätzungen. Die Bilder könnten ihm im Wahlkampf neuen Auftrieb geben.

Es ist nicht nur patriotische Begeisterung, die Bolsonaros Anhänger*innen auf die Straße bringt: Zu den Aufmärschen in Rio und Brasília sind aus dem ganzen Land Busse organisiert worden – oft bezahlt durch anonyme Spenden von Unternehmen. Und auch die mächtigen Pfingstkirchen helfen dem Präsidenten. So wurde der große Lautsprecherwagen an der Copacabana vom einflussreichen Pastor Silas Malafaia bezahlt, den manche als »Bolsonaros direkten Draht nach oben« bezeichnen. So eine verdeckte Unterstützung findet im Wahlkampf in Brasilien häufig statt. Auch weil direkte Parteispenden verboten sind.

Bolsonaros Chancen stehen schlecht, aber in den vergangenen Wochen konnte er in den Umfragen etwas aufholen. In den TV-Debatten konnten bislang weder Lula noch Bolsonaro überzeugen. Vermutlich wird der Ton bald rauer werden. Das sorgt zwar für emotionale Debatten, aber es bringt auch Probleme: »Die Polarisierung auf zwei Kandidaten sorgt dafür, dass es kaum um Inhalte geht. Es geht vor allem um die Personen«, so der Politikberater Paulo Vasconcelos gegenüber der Tageszeitung »Globo«. Das wurde auch in Bolsonaros Rede am Mittwoch deutlich. Und noch etwas hat Bolsonaro mit keinem Wort erwähnt: den 200. Unabhängigkeitstag Brasiliens.

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