- Politik
- Recycling in Argentinien
Die wiedererlangte Ehre der Cartoneros
In Argentinien werden einst Ausgegrenzte zu einer treibenden Kraft im Wertstoffhandel
Es ist Nachmittag, die Sonne verschwindet langsam hinter den Häuserschluchten von Buenos Aires. Zwischen den Massen, die aus der U-Bahn steigen und den Weg nach Hause suchen, tauchen einzelne Personen mit riesigen Plastiksäcken und Handkarren auf. Sie wühlen in Abfalltonnen herum, nehmen bereitwillig Kartons aus den Geschäften entgegen und ziehen ihre etliche Kilo schweren Taschen hinter sich her oder stapeln den Karton auf Metallwagen, die klirrend durch die Straßen rollen.
Noch vor 20 Jahren war das Altpapiersammeln im öffentlichen Raum verboten, heute dagegen ist es Teil der Recyclingstrategie der Stadt Buenos Aires. Nicht der Bürgermeister gibt dabei den Ton an, es sind die Sammler*innen selbst. Und das längst nicht mehr nur in der Metropole. In ganz Argentinien organisieren sich Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen und nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand.
Die Beschäftigten in den Recyclinghöfen kommen alle aus den Armenvierteln der Hauptstadt, sie vereint Geschichten des Hungers, der Krise, der häuslichen Gewalt und der Drogenabhängigkeit. Irgendwann war die Not so groß, dass sie im Müll nach verwertbaren Resten suchten. Auch Anna Maria Alfonso sind die Leiden ihres bisherigen Lebens anzusehen. Ihr Gesicht spricht Bände über kalte Nächte im Freien, über ein Leben, das ein Unglück nach dem anderen erlebt hat. Dennoch ist ihr Auftreten energisch, stolz und selbstsicher. Denn die Genossenschaft hat ihr zu dem verholfen, was sie heute ist. Sie leitet den Recyclinghof in der Straße Cortejana mit rund 400 Beschäftigten im südlichen Stadtviertel Parque Patricios. Mehr als 1000 Sammler*innen laden hier Tag für Tag ihre Ware ab.
Angefangen habe alles vor mehr als zwei Jahrzehnten, erzählt Anna Maria Alfonso. 2001 steckte Argentinien in der größten Wirtschaftskrise, die das Land bis dahin gesehen hat. Nach Altpapier zu suchen, galt noch als Diebstahl und Rumlungerei. »Wir Cartoneros mussten die Polizisten bestechen, damit sie nicht unsere Wagen mitnahmen. Wir haben gezahlt, um zu arbeiten. Heute ist es umgekehrt.«
Tausende von ihnen nahmen Tag für Tag die heruntergekommenen Züge in die Innenstadt und verbrachten teilweise die Nacht im Freien, um nach Kartons zu suchen, bis am Morgen der erste Zug zurückfuhr. Cartoneros wurden drangsaliert, teilweise versuchte man, Transportverbindungen in die Armenviertel einzustellen. Mauricio Macri, ein damals aufsteigender konservativer Politiker, sagte 2002 gegenüber den Medien: »Die Kartonsammler stehlen unseren Müll.« Fünf Jahre später wurde er Bürgermeister der Stadt, und von 2015 bis 2019 regierte er als Staatspräsident Argentinien.
Bereits 2001 half eine Gruppe um den Rechtsanwalt Juan Grabois den Cartoneros, sich zu organisieren und ihre Arbeit zu legalisieren. Ein Jahr später gründeten sie dafür die MTE (Movimento de Trabajadores Excluidos), die Bewegung der ausgeschlossenen Arbeiter*innen. Über Proteste und Demonstrationen mit vielen Verletzten erkämpften sie sich die Entkriminalisierung.
Inzwischen sind die Cartoneros weitgehend anerkannt, und ihre Bewegung ist gewachsen. Im ganzen Land sind selbstorganisierte Recyclinghöfe entstanden, mittlerweile arbeiten dort rund 20 000 Menschen. Allein im Zentrum von Buenos Aires werden in zwölf Recyclingstationen monatlich 7000 Tonnen Müll wiederverwendet. Viele Kommunen arbeiten mit ihnen zusammen an einem gemeinsamen Müllmanagement, um das Recycling zu verbessern.
Grundlage für diese Entwicklung ist das Sozialprogramm Potenciar Trabajo, das unter der linksreformistischen Regierung von Néstor Kirchner eingeführt wurde. Der Anthropologe und Aktivist Santiago Sorroche erzählt, man habe entschieden, sich noch umfassender um die Lebensverhältnisse der Marginalisierten zu kümmern. Um Personen wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern, erhalten sie einen staatlichen Grundlohn, den sie durch zusätzlichen Verdienst ausbessern können. Das Stichwort lautet »economía popular«, womit die Wirtschaft der Armen unterstützt werden soll.
Der Begriff umschreibt zugleich die Überlebenskünste der ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen, die sich vielfach mit Tagelohn und selbsterfundener Arbeit über Wasser halten, die – zumindest vorerst – weder gesellschaftlich anerkannt noch geregelt ist.
Gleichzeitig bedeutet »economía popular« für die Betroffenen gegenseitige Solidarität und der gemeinsame Versuch, ein besseres Leben zu erreichen. Auf dieser Idee beruht auch die Philosophie von der MTE. Dass man dabei auf die Unterstützung des Staates und die Zusammenarbeit mit ihm setze, sei richtig, sagt Sorroche, »dafür ist er ja schließlich da«.
Auf dem Recyclinghof von Cortejana zwischen Laufbändern, Maschinen, die das getrennte Material zusammenpressen, und kuriosen Fundstücken – wie etwa geschredderten Banknoten aus der Zentralbank oder nagelneuen Jacken –, taucht Sergio Sánchez auf, der Präsident der Föderation der Cartoneros von Buenos Aires. »Die MTE hört zu, man träumt und wächst«, sagt er. Es gehe ihm darum, sich um die zu kümmern, die gestrauchelt sind. »Wir begleiten sie, damit sie wieder zurück ins Leben kommen.« Jeder hier wisse, was es bedeutet, auf der Straße zu leben, sagt Sánchez. So organisiert die MTE auch Suppenküchen und Kleiderspenden. Es gehe um Selbstorganisation, Würdigung der eigenen Arbeit – und letztlich darum, »dass es keine Ausgeschlossenen mehr gibt«.
Während sich Sergio Sánchez um die Koordination der Organisationen kümmert, ist Anna Maria Alfonso für das Praktische zuständig. Häufig bedeutet das, sich um die alltäglichen Probleme der Genoss*innen zu kümmern und ihnen beizustehen. So etwa vermittelt sie Drogenabhängige an eine eigens dafür gegründete Teilorganisation oder kümmert sich um die Kinderbetreuung. Auch Gewalterfahrungen sind ein Thema.
Ebenso müssten Genderthemen angegangen werden, meint Alfonso. Sie hat sich im Gegensatz zu anderen Genossenschaften der MTE dazu entschlossen, Männer und Frauen in den verschiedenen Bereichen gemischt einzusetzen. Sie zeigt auf eine riesige Waage, die im Boden der Halle eingebaut ist. Sowohl Männer als auch Frauen laden die schweren Säcke auf die Fläche. Ein Mann und eine Frau stehen daneben und notieren jede Gewichtsanzeige. »Ich will damit zeigen«, so Alfonso, »dass beide Geschlechter zu allem fähig sind.«
Sánchez und Alfonso stellen in Cortejana gewissermaßen die »Oberhäupter« dieser Schicksalsfamilie dar. Zwar bezeichnet sich die MTE als Basisorganisation, doch mit den Jahren sind Hierarchien entstanden. Als Führungspersonen, die eine Autorität darstellen, agieren Mitglieder der ersten Stunde, die mittlerweile zwischen 40 und 60 Jahre alt sind. In der Organisation werden sie Referent*innen genannt.
Längst hat sie aber noch nicht alle Ziele erreicht. So etwa bemängelt Anna Maria Alfonso, dass manche ihrer Genoss*innen sich auf dem Erfolg ausruhen würden. Die erzielten Löhne – aus dem Verkauf des Materials und den Subventionen der Regierung – bewegen sich immer noch am Existenzminimum. Da Argentinien wieder einmal durch eine tiefe Wirtschaftskrise geht, bedeutet das keine Sicherheit. Die Inflationsrate der letzten 12 Monate liegt bei über 60 Prozent. Praktisch jeden Tag erhöhen sich die Lebensmittelpreise. Laut offiziellen Zahlen leben rund 37 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.
Die Wirtschaftskrise überträgt sich auch auf die Regierung. Während die Rechte versucht, mit dem Internationalen Währungsfonds neue Kredite zu bekommen und dafür Sozialprogramme einstampfen will, geht die Linke dagegen auf die Straße. Auch die MTE unterstützt die Proteste. Sie fordert einen Ausbau der Programme und die Einführung eines universellen Mindestlohns.
Längst ist die MTE über das Kartonsammeln hinausgewachsen. Die Organisation beherbergt mittlerweile auch Genossenschaften, die aus Näher*innen, ehemaligen Gefangenen und Landarbeiter*innen bestehen. Zusätzlich verwaltet man Kindergärten, Sozialprogramme für Obdachlose und Schulen. Bald soll eine eigene Hochschule für Recycling und zirkuläre Wirtschaft eröffnet werden. Schon jetzt produzieren Mitglieder der MTE Müllsäcke, Taschen, Portemonnaies und Kunstgegenstände aus geretteten Materialien. Das meiste davon kauft der Staat für den eigenen Bedarf auf.
Einzelne Sammler*innen bekleiden inzwischen sogar Regierungspositionen. Patria Grande, die politische Schwesterorganisation der MTE, ist Teil der linksreformistischen Landesregierung unter Alberto Fernández und stellt drei Parlamentsmitglieder. Seit 2019 ist Maria Castillo Direktorin für »economía popular« der Nationalregierung. Für ein Interview nimmt sie sich auf einem Recyclinghof in Lomas de Zamora Zeit, einem armen Vorort von Buenos Aires. Der ist ihr lieber als das schicke Büro in der Innenstadt. »Meine Position ist der Beweis dafür, dass wir fähig sind, gesellschaftliche Teilbereiche zu verwalten – trotz der argwöhnischen Blicke, die unsere soziale Herkunft und Bildung hinterfragen«, sagt Castillo.
Davon lässt sie sich aber nicht beirren. Ihre Aufgabe sei es, die Politik in ihrem Bereich zu planen, erklärt sie. Basisorganisationen müssten weiterhin mit öffentlichen Geldern und einem besseren Management gefördert werden: »Häufig braucht es mehrere Jahre, bis Gelder für den Kauf von Maschinen freigegeben werden. Dabei brauchen die Genoss*innen die Werkzeuge heute und jetzt.«
Außerdem müsse man sich darum kümmern, dass der gesamte Wertstoffkreislauf stimmt – vom Sammeln über das Verarbeiten bis zum Wiederverwenden der Produkte. Dafür hat die MTE ein Gesetzesprojekt mit entworfen: Jedes Unternehmen, das Verpackungen herstellt, soll je nach Material eine Recyclingabgabe zahlen. Ziel des Gesetzes sei es, so Castillo, »dass jedes Unternehmen möglichst auf wiederverwendbare Verpackungen setzt und die zirkuläre Wirtschaft gefördert wird«.
Doch seit Jahren schläft die Vorlage im Parlament. Die Lobby der Unternehmen, erklärt Castillo, habe offenbar mehr Gewicht als ein paar Cartoneros und Umweltschützer*innen. Sie hat keinen Zweifel daran, dass der Kampf um ein Leben in Würde auch der Kampf dafür ist, Abfallsammlung und Recycling als Teil der gesellschaftlichen Aufgaben anzuerkennen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!