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Milde Strafen für rechte Schläger
Urteil im Fretterode-Prozess bleibt deutlich unter der Forderung der Anklage
Als Sven Adam nach dem Urteilsspruch vor die Kameras trat, war er, was nur sehr selten vorkommt, beinahe sprachlos. »Das Urteil ist entsetzlich«, sagte der Rechtsanwalt, der im sogenannten Fretterode-Prozess einen der beiden von Neonazis angegriffenen Journalisten vertreten hatte. »Die Entscheidung verharmlost eine Gewalttat, mit der Neonazis eine No-Go-Area für Journalisten schaffen wollten.«
Am 29. April 2018 hatten zwei auf Recherchen zum Rechtsextremismus spezialisierte Reporter das Anwesen des einflussreichen NPD-Bundesvizes und Kameradschaftsführers Thorsten Heise im thüringischen Fretterode beobachtet und Fotos gemacht. Nachdem sie bemerkt worden waren, wurden sie von Heises Sohn Nordulf H., heute 23, und dem Heise-Vertrauten Gianluca B., heute 28, erst im Auto über die Straßen der Region gejagt und dann brutal angegriffen. Gianluca B. schlug einem der beiden mit einem Traktorschraubenschlüssel den Schädel ein, Nordulf H. stach dem anderen mit einem Messer ins Bein.
Nach mehr als einjährigem Prozess verurteilte das Landgericht in Mühlhausen die beiden Neonazis am Donnerstag zu äußerst milden Strafen: Gianluca B. kam mit einer zwölfmonatigen Bewährungsstrafe davon. Nordulf H., der zur Tatzeit noch Heranwachsender war, muss nur 200 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Neben der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung hielt die Strafkammer lediglich noch Sachbeschädigungen am Auto der Journalisten für erwiesen. Den ebenfalls angeklagten Raub der 1500 Euro teuren Kameraausrüstung habe man nicht aufklären können, sagte Strafkammervorsitzende Andrea Kortus.
Die Angeklagten hatten versucht, sich vor Gericht als brave Bürger zu inszenieren. Ihre halsbrecherische Verfolgungsjagd, Stoßstange an Stoßstange, wie Augenzeugen berichteten, stellten sie als verkehrsregelkonformes Hinterherfahren dar. Ihre Attacke erklärten sie zur Notwehr: Lediglich das Recht am eigenen Bild hätten sie durchsetzen wollen, ganz friedlich, und seien dann von den beiden Männern angegriffen worden.
Die Täter als die wahren Opfer und ihre Widersacher als »Antifa-Schläger«: Das war die Geschichte, an der die Verteidigung, ungeachtet der Beweislage, bis zuletzt festhielt. Und überraschend befand nun das Gericht: Das sei eine »dem Grunde nach nachvollziehbare und geständige Einlassung«. Es glaubte den Angeklagten, dass sie ihre Opfer nicht für Journalisten, sondern für Antifa-Aktivisten gehalten hätten. Und es hielt auch für nicht widerlegbar, dass Nordulf H. geglaubt habe, die Reporter hätten zweimal versucht, ihn zu überfahren.
Die Thüringer Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss (Linke), die die Urteilsverkündung beobachtet hatte, nannte es »unfassbar«, dass das Gericht die Tat nicht als Angriff auf die Pressefreiheit bewertet habe. Von einem »Freifahrtschein für Neonazis« sprach einer der angegriffenen Journalisten. Wie die Staatsanwaltschaft, die für Gianluca B. drei Jahre und vier Monate Gefängnis und für Nordulf H. eine Bewährungsjugendstrafe von einem Jahr und neun Monaten gefordert hatte, behielt sich auch die Nebenklage vor, Revision gegen den Richterspruch zu beantragen.
Im Prozess war sehr deutlich geworden, wie nachlässig die Polizei nach der Tat ermittelt hatte. So hatte eine Streife einfach zugesehen, als aus dem zu Heises Anwesen zurückgekehrten BMW der Neonazis mögliche Beweismittel herausgetragen wurden. Das Haus von Gianluca B. wurde nie, das Haus der Heises nur halbherzig durchsucht. Und trotz der Stichverletzung, die einer der Journalisten davongetragen hatte, schenkte man einem Messer, das bei einer späteren Untersuchung des Täterfahrzeugs gefunden wurde, keine besondere Aufmerksamkeit.
Auf eine Anzeige des Neonaziführers Thorsten Heise aus dem Jahr 2021 hin reagierten die thüringischen Behörden jetzt wesentlich kompromissloser: Zwei Tage vor der Urteilsverkündung ließ die Staatsanwaltschaft Mühlhausen nun die Wohnung eines weiteren Journalisten durchsuchen, der investigativ zur rechten Szene recherchiert. Sie verdächtigt den Mann, Ende April 2021 im thüringischen Hohengandern Plakate mit den Fotos der beiden Angeklagten aufgestellt zu haben, die unter anderem die lange Zeit bis Prozessbeginn kritiserten. Einziges Indiz: ein damals in der Nähe entdecktes Handy, dessen Kamera auf die Plakate gerichtet war und das angeblich dem Journalisten gehören soll.
Während die Staatsanwaltschaft die Durchsuchung am Donnerstag als »verhältnismäßig« verteidigte, sprach die Deutsche Journalistinnen- und Journalistenunion in der Gewerkschaft Verdi von einem »schweren Eingriff in die Pressefreiheit«. Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft sei – ebenso wie jetzt auch das Urteil im Fretterode-Prozess – ein »Schlag ins Gesicht« aller investigativen Journalist*innen.
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