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Wenn das der Schützer wüsste
In Inszenierungen der Bayreuther Festspiele soll künftig die Vokabel »Führer« ersetzt werden. Ein kritischer Blick auf den Vorfaschisten Richard Wagner und sein Erbe
Die Bayreuther Hügelchefin möchte ihren Bühnenweihfestspielbetrieb fit machen. Der ist kulturell aus der Zeit gefallen, wirtschaftlich aber immer noch einträglich. Das soll auch so bleiben. Doch wie kommt man ungeschoren durch unsere Ära der Empfindlichkeiten? Katharina Wagner hat kürzlich angeordnet, das Wort »Führer« in der aktuellen Inszenierung des »Lohengrin« durch harmlose Synonyme (»Schützer«) zu ersetzen. Dagegen poltert Dirigent Christian Thielemann, der Vorzeigereaktionär des deutschen Musikbetriebs. Er lehnt sich zwar üblicherweise nicht so weit aus dem Fenster wie sein Literaturverwandter Uwe Tellkamp, aber genug ist genug: »So steht es nun einmal in Richard Wagners Partitur.« (»Berliner Zeitung«, 8.9.22) Das bürgerliche Feuilleton zeigt Verständnis, schließlich sei die Wagner-Verehrung des deutschen Führers doch etwas wirr gewesen (»Das Streiflicht«, »Süddeutsche Zeitung«, 10./11.9.22). Mit anderen Worten: Was kann der Autor der Hetzschrift über »Das Judenthum in der Musik« von 1850 dafür, wenn ein späterer politischer Extremist seine Musik gut findet?
Ein Blick in Adornos hellsichtigen »Versuch über Wagner«, der 1952 erschienen ist – zugrunde lag ein Manuskript von 1939 –, vermag tiefere Einsichten in den inneren Zusammenhang von Antisemitismus, Regression und Autoritarismus zu vermitteln, der nicht bloß an der Oberfläche der Texte, sondern in Wagners musikalischer Gestaltungsweise besteht.
Für Adorno bestand der innere Widerspruch von Wagners Musik darin, dass sie Geschichte verleugnet. Angebliche Naturverhältnisse werden verherrlicht und die Entwicklung des musikalischen Geschehens wird durch effektvolle Wiederholungen eingängiger Einfälle ersetzt (wie in der späteren musikalischen Massenkultur). Dabei bleibe Wagners musikalisches Ich in all seiner Selbstherrlichkeit ohnmächtig. Ihm fehle die Kraft, sich »zur Objektivität eines Totalzusammenhangs zu entäußern«. Das Gesamtkunstwerk inszeniere sich als Triumph der Kunstautonomie, nehme strukturell aber den Charakter der Ware an, in der der Tauschwert über den Gebrauchswert dominiert. Man kann Wagner-Fan und immer dabei sein, ohne etwas von der Sache zu verstehen.
In Wagners Musik laufe der bürgerliche Trotz leer. Nicht nur, weil der Komponist vom feudalen Restbestand im rückständigen Deutschland abhängig war, um sein Bayreuther Unternehmen zu finanzieren. Sondern vor allem, weil er sich bei der Artikulation des Aufbegehrens nie bis zum entfesselten Ausdruck vorwagte. »Der unaufhaltsam fortschreitende Prozeß, der doch keine neue Qualität aus sich entläßt und stets wieder ins Alte mündet; die Dynamik der permanenten Regression hat dem Wagnerschen Werk ein Rätselhaftes verliehen«, resümierte Adorno. Der Grund der Verrätselung liege in der Furcht davor, der eigenen Überfälligkeit als Gesellschaftsformation ins Auge sehen zu müssen.
Adorno hat Richard Wagners Sozialcharakter im Licht seiner vorfaschistischen Züge rekonstruiert. Faschismus ist Adorno zufolge die politische Erscheinungsform des »bürgerlichen Terrorismus«, einer Steigerungsstufe des »bürgerlichen Nihilismus«, der bei Wagner zu sich selbst kommt. Zu den »Existentialien« des Faschismus gehören neben »Tod und Vernichtung« vor allem »Eigenlob und Pomp«. Denn todessehnsüchtige Faschisten bezweifeln, dass ihre Schöpfungen sie überleben. Faschismus ist gekennzeichnet durch »die Einsicht in die Sinnlosigkeit der herrschenden Eigentumsverhältnisse, verkehrt in Wut über die Genußsucht, entpolitisiert […], vernebelt durch Substitution biologischer für gesellschaftliche Begriffe«. In Wagners Antisemitismus finde ein seelischer »Widerspruch zwischen der Verhöhnung des Opfers und der Selbstdenunziation« seinen verqueren Ausdruck. Wagner verkörpere den ambivalenten Sozialcharakter eines Künstlers, der gegen die feudalen Herrschenden und das Bürgertum aufbegehrt, von denen er sich doch zeitlebens unterwürfig abhängig mache. »Zwischen Idiosynkrasie und Verschwörungswahn knüpft sich die Rassetheorie.« Anstatt soziale Interessenantagonismen zu erkennen und auf den Begriff zu bringen, würden diese biologisiert und konspirationstheoretisch mystifiziert. »Gesellschaftliche Zusammenhänge erscheinen […] als Werk geheimnisvoller Verschwörungen. Zum Ekel vorm Juden gehört dessen Imagination als Weltmacht.«
Kann man über solche Abgründe schadlos hinweggleiten, indem man die Vokabel »Führer« vermeidet? So etwas kann nur hoffen, wer vom Gehalt der Werke, die er oder sie alljährlich zur Aufführung bringt, keinen Begriff hat. Sollte man sie also besser nicht aufführen? Das wiederum könnte dabei helfen, das faschistoide Potenzial der Gegenwart unter den Teppich zu kehren. Entweder in der naiven Hoffnung, es möge für immer dort bleiben, oder in der bösen Zuversicht, dass es umso gewaltiger hervortritt, wenn seine Stunde gekommen ist.
Auf dem Hügel in Bayreuth scheint aber eine Mischung aus Naivität und kaufmännischer Gerissenheit zu regieren. Die Strategie ähnelt der vorsichtigen Anpassung kanonischer Texte der populären Kultur an die Befindlichkeiten des woken Zeitgeists. Man möchte den Ball flach halten, wenn es um Karl Mays reaktionäre Stereotype des edlen Häuptlings der Apachen geht und das I-Wort vermeiden. Man möchte Streit aus dem Weg gehen, wenn es um die Grandiositätsfantasie eines stark verhaltensauffälligen Mädchens geht, das in Astrid Lindgrens Narrativ bei der imaginären Aufwertung des Vaters, der sie verlassen hat, das N-Wort verwendet.
Wer hier unauffällig nachbessert und nachträglich anstößige Wörter durch unanstößige ersetzt, begeht kein Verbrechen am kulturellen Erbe, wie die Reaktionäre unter Schnappatmung behaupten. Schlimmer: Wer das tut, kaschiert den Rassismus und den Autoritarismus, die in die DNA unserer Kultur eingeschrieben sind. Also die anstößigen Wörter stehen lassen und an geeigneter Stelle kommentieren? Aber nur, wenn das nicht auf Verharmlosung hinausläuft (Karl May hat die amerikanischen Ureinwohner doch aus tiefstem Herzen verehrt; Frau Lindgren hat das nicht rassistisch gemeint, so redete man damals halt; Wagner dachte doch nicht an den bösen Adolf, als er Lohengrin vom »Führer« singen ließ usw.).
»›Entschuldigung, aber wo kommen wir denn da hin? Dann kann man auch gleich viel mehr ändern, der ganze ›Lohengrin‹ ist ja voll von solchen Stellen, ›Für deutsches Land das deutsche Schwert‹, all das‹, sagt Thielemann, der den ›Lohengrin‹ dirigiert hat, im Interview der Welt und spricht von einem ›Führer‹-Skandal« (»Berliner Zeitung«, 8.9.22). Der Mann hat recht. Vielleicht wäre es am Ende das Beste, nicht zu ändern, nicht zu kommentieren, sondern dergleichen gar nicht mehr anzuhören und aufzuführen. Und wenn doch aufgeführt wird, dann ideologiekritisch. Es ist ja nicht so, dass es keine großen Vorbilder dafür gibt: Patrice Chéreau und Pierre Boulez haben 1976 paradigmatisch gezeigt, wie man die kryptischen sozioökonomischen Gehalte in Wagners »Ring« ans Licht bringen kann. Als gute Nebenwirkung mag das heute helfen, den Wagner-Ideolog*innen im Publikum und am Pult die Sache zu verleiden. Wie auch immer: Besser als jedes Unter-den-Teppich-Kehren ist es auf jeden Fall, den Hügel-Kult zu boykottieren – wie weiland Friedrich Nietzsche.
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