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Erstmal doch kein Mega-Streik
Bahn-Arbeiter, die unter miserabelsten Arbeitsbedingungen leiden, stimmen über Biden-Angebot ab
Streiken oder nicht streiken? Über diese Frage müssen in den nächsten Wochen rund 115 000 amerikanische Eisenbahn-Gewerkschaftsmitglieder entscheiden. Vor einigen Tagen wurde in letzter Sekunde unter hektischer Beteiligung der Biden-Regierung ein nationaler Eisenbahn-Streik von zwölf Gewerkschaften vorläufig abgewendet. Der Kompromiss – der unter anderem eine sofortige Lohnerhöhung von 14,1 Prozent vorsieht – geht nun jedoch erst einmal zur Abstimmung an die Gewerkschaften.
Die Probleme auf den US-Schienen bauten sich über Jahre auf. Das chronisch unterbesetzte Frachtwesen transportiert immerhin 28 Prozent der US-Güter wie Kohle, Mais, Sojabohnen oder Chemikalien. Immer drastischer wurden die Versuche der Eisenbahngesellschaften, wie etwa Union Pacific, durch ein unpopuläres Punktesystem ihre wenigen Mitarbeiter zu ständiger Arbeit, Überstunden und Dauerbereitschaft zu zwingen. Deswegen wurden die 5000 Mitglieder der International Association of Machinists and Aerospace Workers (IAM) die ersten, die für einen Streik stimmten.
Die Gewerkschaften wünschen sich vor allem bezahlte Krankheitstage. Als der Lokingenieur Aaron Hiles im Juni diesen Jahres im Maschinenraum, irgendwo zwischen Kansas City, Missouri und Fort Madison in Iowa, an einem Herzinfarkt starb, kochte die Wut über. Denn der 51-jährige Hiles fühlte sich schon länger nicht wohl, und hatte auch einen Termin beim Arzt ausgemacht. Doch sein Arbeitgeber, die von Großinvestor Warren Buffett kontrollierte Bahngesellschaft BNSF, zwang ihn, kurzfristig wieder zu arbeiten. Es drohe sonst ein massiver Punktabzug. Hiles ging also nicht zum Arzt, sondern stattdessen direkt in seinen Tod. Nach offiziellen Zahlen der US-Regierung haben die Eisenbahngesellschaften seit dem Jahr 2010 200 Milliarden Dollar an Investoren wie Buffett ausgeschüttet.
Der Tod von Hiles ist die Spitze des Eisbergs. Manche Mitarbeiter verdienen sechsstellig, verbringen aber bis zu 190 Nächte in Motels weit weg von Familie und Freunden. Es wird sogar bestraft, wenn Arbeiter Telefonanrufe des Unternehmers nicht sofort entgegennehmen, obwohl die ländlichen Telefonnetze notorisch unzuverlässig sind. Die Investoren schlafen vermutlich ruhig, die Eisenbahn-Mitarbeiter leiden an Fettleibigkeit und Schlafproblemen.
Kurz vor dem wegen dieser Missstände angekündigten Streik malte die Biden-Regierung plötzlich apokalyptische Szenen an die Wand. Ein Streik würde zwei Milliarden Dollar Verlust am Tag verursachen, würde Benzinpreise erhöhen und die Zwischenwahlen im November für die Demokraten torpedieren. Bidens Unterhändler verglichen das Risiko eines Streiks – der erste seit 30 Jahren – gar mit dem Kalten Krieg oder dem 11. September. Bidens Abkommen vom Ende letzter Woche sieht nun 24 Prozent Lohnerhöhung über fünf Jahre vor, auch rückwirkend, sodass im Durchschnitt jeder Mitarbeiter 11 000 Dollar sofort bei einer kollektiven Ja-Stimmen-Abgabe für Bidens Angebot erhalten würde.
Doch längst nicht alle sind optimistisch. Der linke Senator Bernie Sanders lobt zwar Bidens Engagement, ließ es aber ausdrücklich offen, ob die Gewerkschaftsmitglieder dem Kompromiss zustimmen sollten. Sie arbeiteten laut Sanders »unter brutalen Arbeitsbedingungen«. Sanders blockierte republikanische Versuche im Senat, den Streik per Dekret des Kongresses zu verhindern. Aber unter allen demokratischen Senatoren stand Bernie Sanders alleine. Dennis Pierce, Präsident der Brotherhood of Lockengineers and Trainmen, ist von der Bestätigung des Abkommens durch die Wahl nicht überzeugt. »Es ist sehr schwer, solche Verträge ratifizieren zu lassen, wenn die Mitarbeiter derart agitiert und aufgebracht sind«, zitiert ihn die Website Politico.
Die Eisenbahngesellschaften haben in den letzten Jahren aufgehört, Profite durch größere Einnahmen zu suchen. Stattdessen werden Preise erhöht und Kosten runtergesetzt. Dies alles auf Wunsch der »Aktivisten-Investoren«, die maximal von ihrem Kapitaleinsatz profitieren wollen. Deswegen wurde in den letzten Jahren die sogenannte präzise Zeitplanung (PSR) eingesetzt. Dadurch haben heute die US-Eisenbahnen 30 Prozent weniger Mitarbeiter als vor sechs Jahren. Das PSR-System kennt kein Pardon, weder für Krankheit noch für Unwetter, absurderweise auch nicht für steigende Nachfrage. Nun wollten die Gewerkschaften 15 bezahlte Krankheitstage im Jahr erringen. Unter Bidens Regie bekommen sie genau einen.
Gut möglich, dass das Problem unter den Teppich gekehrt worden ist. Es mutet ironisch an, dass es vielleicht ausgerechnet Bidens Schwäche ist, die den Präsidenten in den Verhandlungen zum Zünglein an der Waage gemacht hat: Gerade die Gewerkschaften müssen befürchten, dass bei einem schlechten Ausgang der Wahlen im November die bescheidenen Vorteile aus diesem vorläufigen Abkommen verloren gehen könnten. Der neue Streikwille unter den Eisenbahnern kommt zufällig genau hundert Jahre nach den größten Streiks in der Branche, als 400 000 Maschinisten, Elektriker und Schmiede im Jahr 1922 gestreikt hatten. Auch damals versuchten die Eisenbahngesellschaften, Löhne und Kosten rabiat zu drücken sowie die Gewerkschaftsorganisation zu brechen. Mitglieder wurden erschossen. Heute wie damals liegen für die Gewerkschaften Sieg wie Scheitern nah beieinander.
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