• Politik
  • Umstrittene Vorratsdatenspeicherung

Paris tritt Flucht nach vorne an

Frankreich will sich bei Vorratsdatenspeicherung künftig an EU-Normen orientieren und das Recht auf Privatsphäre wahren

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Frankreich war für das am Dienstag ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur französischen und deutschen Gesetzgebung in Sachen Vorratsdatenspeicherung gewappnet. Im April, als das EuGH ursprünglich seinen Spruch fällen wollte, sah das noch anders aus. Da war der Vorwurf, Frankreich setze auf Datensammlung in großem Umfang und über einen relativ langen Zeitraum, durchaus berechtigt. Darum hatte ja der EuGH-Generalanwalt Ende 2021 diese Praxis als »unionsrechtswidrig« eingestuft. Eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung zur Bekämpfung schwerer Kriminalität sei nicht mit Unionsrecht vereinbar, hieß es. Die EU-Mitgliedsländer seien gehalten, »Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so auszugestalten, dass Daten rechtssicher, anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden«.

Frankreich hatte auf die Kritik des EuGH-Generalanwalt reagiert. Zwar kann sich die Regierung immer noch nicht dazu durchringen, per Gesetz Rechtssicherheit zu schaffen. Doch gewissermaßen stellvertretend trat der Kassationsgerichtshof als höchste Instanz die »Flucht nach vorn« an. Als am 18. Juli dessen neuer Erster Präsident, Christophe Soulard, in sein Amt eingeführt wurde, betonte er in seiner Antrittsrede, dass »der nationale Richter das Gesetz außer Kraft setzen muss, wenn es gegen europäische Normen verstößt«.

Nur Tage zuvor hatte der Kassationsgerichtshof vier Entscheidungen zur Speicherung von Verbindungsdaten bei strafrechtlichen Ermittlungen gefällt, die in die Richtung gehen, die vom EuGH gewiesen wird. Dieser ist der Ansicht, dass die Vorratsspeicherung – in Frankreich sind das Listen mit Verkehrs- und Standortdaten – das durch die EU-Grundrechtecharta geschützte Recht auf Privatsphäre verletzt. Diesen Standpunkt vertreten auch die französische Liga für Menschenrechte und andere Organisationen, die regelmäßig gegen die »ungehemmte Sammelwut von Polizei, Justiz und Geheimdiensten« protestieren. Wie wenig sachgemäß die bisherige Praxis ist, zeige sich schon daran, dass in Frankreich, wo mehr Daten erfasst und gespeichert werden als anderswo in der EU, trotzdem die meisten Terrorakte verübt werden.

Die Diskrepanz zum EU-Recht wurde besonders deutlich, als der EuGH im Oktober 2020 in einer aufsehenerregenden Entscheidung die Bedingungen für die Vorratsspeicherung einschränkte. Insbesondere wurde klargestellt, dass keine nationalen Regelungen den Betreibern elektronischer Kommunikationssysteme, Internetzugangsanbietern und Hosting-Providern eine undifferenzierte und allgemeine Speicherung von Verbindungsdaten vorschreiben können. Zugleich wurden der Rahmen für ihre mögliche Speicherung und die Formen ihrer Verarbeitung je nach dem verfolgten Ziel abgesteckt.

Gestützt auf diese Entscheidung hatten in Frankreich Schwerkriminelle die Annullierung der Beschlagnahme ihrer Verbindungsdaten mit der Begründung beantragt, dass die Speicherung unrechtmäßig war. Zum damaligen Zeitpunkt schrieb das französische Gesetz nämlich eine allgemeine Speicherung für die Dauer eines Jahres zur Aufklärung von Straftaten vor, ohne zwischen den Gründen dafür zu unterscheiden. Das legten nicht alle Instanzen auf gleiche Weise aus. So hat im Mai vergangenen Jahres der Staatsrat, das oberste Verwaltungsgericht, diese einjährige Speicherdauer für Fälle von Terrorismus und Bandenkriminalität bestätigt. Doch im Februar dieses Jahres hob der Verfassungsrat dieses Urteil als unvereinbar mit dem Grundgesetz auf. Die von den Betreibern gespeicherten Verbindungsdaten lieferten »zahlreiche und genaue Informationen über die Nutzer sowie gegebenenfalls über Dritte«. Die »Weisen« schlussfolgerten: »Die allgemeine und undifferenzierte Speicherung von Verbindungsdaten greift unverhältnismäßig stark in das Recht auf Achtung des Privatlebens ein.« So war es nur konsequent, dass der Kassationsgerichtshof am 12. Juli die EuGH-Sichtweise übernahm.

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