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Wählen mit militärischer Begleitung
Russland treibt mit Scheinreferenden Annexion ukrainischer Gebiete voran
Mit den gleichzeitig laufenden fünftägigen Scheinreferenden will Russland die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk sowie die besetzten Teile der südukrainischen Regierungsbezirken Cherson und Saporischschja annektieren. Die inszenierte Abstimmung begann am Freitag und soll am Dienstag zu Ende gehen. Dabei ist unter anderem bemerkenswert, dass Russland aktuell keine der vier ukrainischen Regionen komplett kontrolliert: Während die Oblaste Luhansk und Cherson größtenteils unter der Besatzung durch die russischen Streitkräfte stehen, sind die Russen weit davon entfernt, den gesamten Bezirk Donezk zu kontrollieren. Auch ein erfolgreicher Angriff auf die Großstadt Saporischschja scheint im Moment unrealistisch.
Dass Russland die Gebiete, in denen die »Referenden« stattfinden, nicht kontrolliert, hat Folgen. Nach Angaben der Besatzungsbehörden starben im Gebiet Cherson am Sonntag zwei Menschen in einem Hotel bei einem ukrainischen Raketenangriff. In der Stadt Altschewsk im Gebiet Luhansk teilten die Behörden mit, dass in Bombenschutzkellern abgestimmt werden könne.
In der Stadt Enerhodar im Gebiet Saporischschja musste ein Wahllokal wegen massiven Beschusses von ukrainischer Seite an eine andere Stelle verlegt werden, wie die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass meldete. Die international als Bruch des Völkerrechts kritisierten Abstimmungen sind auch im Gebiet Donezk noch bis Dienstag angesetzt.
Weil die Ergebnisse der Scheinreferenden im Voraus feststehen, ist davon auszugehen, dass Russland nach dem 27. September schnellstmöglich die Annexion der Gebiete verkünden wird. Dabei entsteht die Frage, wie Russland dann die eigenen Grenzen definieren wird. Die von Russland kontrollierten Volksrepubliken Donezk und Luhansk wurden von Moskau noch im Februar in den vollen Grenzen der entsprechenden ukrainischen Oblaste anerkannt. Zu den Bezirken Cherson und Saporischschja gibt es bisher widersprüchliche Angaben. Jedenfalls könnte es durchaus sein, dass Russland die von der Ukraine kontrollierten Teile dieser Bezirke quasi als das von Kiew »okkupierte« Territorium betrachten wird.
Die gestellten Fragen sind in den sogenannten Volksrepubliken und in den Regionen Cherson und Saporischschja unterschiedlich. Weil in Donezk und Luhansk noch im Mai 2014 ein angebliches Unabhängigkeitsreferendum stattfand, wird dort direkt über den Beitritt in die Russische Föderation abgestimmt. In Cherson und Saporischschja sieht das komplizierter aus: Es wird gleichzeitig über den Austritt aus der Ukraine, die Bildung eines unabhängigen Staates und den Beitritt zu Russland in einer großen Abstimmung gefragt. Man kann nur auf dieses Gesamtkonstrukt mit Ja und Nein antworten.
Dass man es auch darüber hinaus mit der Einhaltung der demokratischen Prozeduren nicht so genau nimmt, zeigt unter anderem die Veröffentlichung eines sogenannten Exitpolls im Bezirk Saporischschja, wonach Stand Sonntagmorgen 93 Prozent für den Russland-Beitritt abgestimmt haben sollen. Aufgrund der komplizierten Sicherheitslage – so gab es am Sonntag Explosionen in den besetzten Städten Cherson und Berdjansk – findet die »Abstimmung« überwiegend zu Hause statt, dabei mehren sich die Berichte über polizeiliche oder militärische Begleitung der Vertreter der »Wahlkommissionen«. Offensichtlich dienen die trotzdem zum Teil funktionierenden Wahllokale dem Zweck, entsprechende Fernsehbilder zu liefern. Gleich nach der Verkündung der Scheinreferenden war davon die Rede, die »Abstimmung« überwiegend online durchzuführen, die entsprechende Infrastruktur dafür war allerdings wegen der extrem kurzen Vorbereitungszeit nicht zu schaffen.
»Die Menschen in Militäruniform mit Maschinengewehren und Wahlurnen laufen zusammen mit den sogenannten internationalen Beobachtern über die Höfe. Sie fragen nicht nach dem Pass und geben nur die Stimmzettel aus«, berichtet der Telegram-Kanal Nowamedia über den Verlauf der Scheinreferenden in Cherson. Tatsächlich gibt es in sozialen Netzwerken viele Videos, wie Verteter der »Wahlkommissionen« in Begleitung der bewaffneten Militärs in die Hauseingänge gehen.
Die ukrainischen Behörden fordern die Bewohner der besetzten Gebiete daher auf, das sogenannte Referendum zu ignorieren, zu Hause zu bleiben, niemandem die Türen zu öffnen und sich von den Orten fernzuhalten, wo die Abstimmung in einer oder anderen Form abgehalten werden könnte. »Die ukrainischen Staatsbürger, die sich leider auf dem besetzten Gebiet aufhalten, sollten das ›Referendum‹ ignorieren und dadurch der ukrainischen Armee und auch sich selber helfen«, sagt Iryna Wereschtschjuk, die ukrainische Ministerin für die Angelegenheiten der besetzten Gebiete.
Die Scheinreferenden werden neben den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk nicht nur in den Bezirken Cherson und Saporischschja, sondern auch in Ortschaften des Bezirks Mykolajiw durchgeführt, die zu einem sehr kleinen Teil auch unter der russischen Besatzung stehen. So fand in der Kleinstadt Snihuriwka mit etwas mehr als 10 000 Einwohnern eine Demonstration gegen das »Referendum« statt. »Die meisten von unseren Einwohnern wurden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Wir werden jetzt gezwungen, an der Parade der Absurdität namens ›Referendum‹ teilzunehmen. Snihuriwka war, ist und bleibt ein fester Bestandteil der Oblast Mykolajiw und der Ukraine«, hieß es in dem Statement der Aktion.
Darüber hinaus hat Russland auf der im März 2014 annektierten Krim-Halbinsel sowie in seinem international anerkannten Gebiet Wahllokale für Geflüchtete aus den südöstlichen ukrainischen Regionen eingerichtet. In Sewastopol auf der Krim gibt es zum Beispiel vier solche Wahllokale. Neben Großstädten wie Moskau und Jekaterinburg gibt es auch in Jakutien, Kamtschatka und Sachalin die Möglichkeit, die Stimme abzugeben. Im Endeffekt dürfte all das keinen Unterschied machen: Die Ergebnisse des »Referendums« werden mit der Realität so oder so nichts zu tun haben.
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