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»Wir sind nicht bereit aufzugeben, was uns gehört«
Der ukrainische Gouverneur Witalij Kim über die Referenden im Osten des Landes und das Verhältnis zu Russland
Russland orchestriert in den besetzten Gebieten eine Abstimmung über den Anschluss an Russland, in Russland selbst wird mobilisiert – tritt dieser Krieg in eine neue Phase?
Vielleicht ja, vielleicht nein. Wir haben einige Probleme mit der Mobilisierung in Russland. Für uns heißt das, dass wir mehr Soldaten auf unserem Staatsgebiet haben werden. Die sogenannten Referenden sind für Russland wiederum nur ein Instrument, um der eigenen Bevölkerung zu erklären, wieso sie das alles machen. Ich glaube auch, dass diese sogenannten Referenden Russland die Möglichkeit bieten, unsere Leute in den okkupierten Gebieten einzuziehen. Sie geben dort ja russische Pässe aus. Und ohne einen russischen Pass kann man da auch kaum mehr leben. Man kann nichts bezahlen, man kann nicht bezahlt werden. Das bedeutet: weder Strom noch Gas. Und wenn unsere Leute in den okkupierten Gebieten einen russischen Pass annehmen, dann können sie auch mobilisiert werden, um gegen uns zu kämpfen.
Witalij Kim ist Gouverneur der südukrainischen Region Mykolajiw und durch seine in lakonischem Ton gehaltenen Videobotschaften ein Star in der Ukraine. Teile der Region sind von Russland besetzt. Die gleichnamige Hauptstadt des Oblasts war kurzzeitig belagert, in Vororten wurde gekämpft und dass die Stadt nicht eingenommen wurde, ist nicht zuletzt auch Kims Verdienst. Am Morgen, bevor Stefan Schocher mit Kim sprach, schlugen zwei Raketen mitten im Stadtzentrum Mykolajiws ein.
Wo wird dieser Krieg letztlich entschieden werden? In der Ukraine auf dem Schlachtfeld oder in Moskau, in Dagestan, in anderen Gebieten, in denen sich Unmut regt?
Es gibt nicht diese eine Lösung für dieses Problem. Der Sieg ist eine Frage von vielen kleinen Erfolgen. Jeder, die ganze Welt, hilft uns, gegen das Böse zu kämpfen. Anders kann man das nicht ausdrücken. Deshalb: Jeder Protest in Dagestan, jeder Protest in Russland, all die Hilfe unserer ausländischen Partner werden uns dabei helfen, zu gewinnen.
Und da sind dennoch viele Stimmen in Westeuropa, die meinen, es brauche eine diplomatische Lösung. Sehen Sie irgendeine Schnittmenge für einen Kompromiss?
Ich gebe Ihnen nur ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, ich komme zu Ihnen nach Hause, schnappe mir ein Zimmer in ihrem Haus, dann nehme ich mir ihre Frau und dann sage ich: Lasst uns doch verhandeln. Was gibt es da zu verhandeln?
Der Winter kommt. Mykolajiw wird jeden Tag beschossen. Jeden Tag gibt es Treffer in der Stadt, jeden Tag wird Infrastruktur zerstört. Wie schwierig ist es schon und wird es werden, da die Moral aufrecht zu erhalten?
Die Risiken, mit denen wir leben, sind militärische Risiken. Die Russen können unsere Infrastruktur zerstören und sie wissen, wie man das macht. Das zweite Problem, das wir haben, ist Wasser. Wir haben schlechte Wasserqualität. Und wir müssen das System ständig reparieren. Aber generell sind wir zu 97 Prozent sicher, dass wir das schaffen. Wir werden das schaffen. Aber sicher: All das gilt nur, wenn die Russen unsere Infrastruktur nicht komplett zerstören.
Was betrachten Sie als das größte Risiko für diesen Winter?
Den Beschuss. Wenn es keinen Beschuss gibt, haben die Leute auch kein Problem.
Russland wird immer ein Nachbar sein …
Den können wir uns nicht aussuchen …
Wie können Sie sich nach dem, was passiert ist und nach wie vor passiert, Beziehungen zu Russland in der Zukunft – fern oder nah – einmal vorstellen?
Ich kann nichts Neues schaffen in der Geschichte. Ich kann die Geschichte unseres Planeten nicht neu schreiben und Tatsachen verändern. Aber normalerweise war es immer so, dass die Menschen nach zwei Generationen damit beginnen, einander zu vergeben und zu vergessen. So war das immer. Ich denke, dass die Probleme mit unserem Nachbarn mindestens die kommenden zwei Generationen bestimmen werden. Denn manche Dinge können wir nicht vergessen und auch nicht vergeben.
Die Ukraine wurde immer als ein Land mit schwachen Institutionen angesehen. Auf der anderen Seite: In Krisenzeiten funktioniert dieses Land dann in vielen Bereichen. Wie erklären Sie sich dieses Paradoxon?
Das liegt in unserer Natur. Das ist in unserer DNA. Viele von uns arbeiten eben nur in Extremsituationen sehr gut. Wir bleiben ruhig, leben unser Leben, lassen uns nicht von Alltagsproblemen beeindrucken – aber wenn es Gefahr gibt, wenn eine Situation eintritt, die gefährlich wird, dann stehen wir auf und verteidigen uns und arbeiten hart an unserem Sieg. So wie jetzt. Wir sind nicht bereit aufzugeben, was uns gehört.
Aber je länger die Situation der Okkupation anhält, umso mehr wird sich auch die Demographie in den besetzten Gebieten verändern: durch Abwanderung, durch Propaganda. Befürchten Sie, dass das die Rückeroberung dieser Gebiete erschwert?
Auf jeden Fall und in jeder Hinsicht. Weil die Zeit bei diesem Punkt in diesen Gebieten gegen uns arbeitet. Die Russen haben Fernsehen, sie haben Propaganda, sie zwingen Menschen, für sich zu arbeiten. Viele Leute rührt Politik nicht. Die wollen nur leben und das ist alles. Aber generell arbeitet die Zeit für die Ukraine: Wir haben die Unterstützung der Welt und die Stärke unserer Armee wächst stetig. Wir stehen aber am Schnittpunkt dieser Vektoren.
Militärische Hilfe ist eine Dimension, humanitäre Hilfe ist die andere. Was braucht es da?
Es braucht die humanitäre Unterstützung genauso wie die militärische. Weil ja: Wir haben begrenzte Ressourcen. Wir haben den Willen und die Motivation, uns zu verteidigen. Aber wir haben keine Wahl. Wenn Russland diesen Krieg beendet, wird dieser Krieg enden. Wenn wir diesen Krieg beenden, wird es keine Ukraine mehr geben. Das ist der Unterschied.
Wie lange kann eine Region wie Mykolajiw, die von Landwirtschaft und vor allem auch dem Export von Getreide abhängt, unter solchen Bedingungen durchhalten?
Solange, wie es hier Menschen gibt und Hilfe. Wir hängen derzeit von der Regierung in Kiew und auch von internationalen Partnern ab. Unsere Region kann alleine nicht bestehen – nur gemeinsam mit der Ukraine. Sowohl militärisch als auch ökonomisch.
Sehen Sie denn Signale, dass sich bald etwas ändern könnte, zumindest was die unmittelbare Bedrohung angeht?
Auf dem Schlachtfeld, ja. Aber wenn wir über die Gesamtlage sprechen, sehe ich das nicht so. Russland ist kein logisch agierendes Land.
Befürchten Sie, dass in Westeuropa die Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine abnimmt, je länger der Krieg dauert?
Was den Westen angeht, agiert Russland sehr logisch. Sie sagen, es wird sehr teures Gas geben, hört auf, die Ukraine zu unterstützen. Sie verwenden eben Logik, wenn sie sie brauchen.
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