Verlegen als Selbstermächtigung

Kleine Verlage sind in Berlin Orte der Vielstimmigkeit und Diversität

  • Nina Süßmilch
  • Lesedauer: 7 Min.

Eigentlich habe sie gar keine Lust mehr über ihren Verlag zu reden, sagt Nikola Richter lachend. Sie steht vor dem Haupteingang eines alten Fabrikgebäudes in Neukölln. Mehrere Kreativagenturen und Freischaffende haben sich hier zusammengetan. Richter möchte viel lieber über die Bücher sprechen, die sie in ihrem Ein-Frau-Verlag mikrotext herausbringt.

Die mikrotext-Bücher sind klein und kompakt. Bequem passen sie auf eine ausgestreckte Hand und damit in die größeren Jacken- und Manteltaschen. Das Büro von mikrotext liegt im 3. Stock des Gebäudes und geht von einem weiten Flur ab, in dem ein Rennrad steht und Plakate hängen. Im Büro selbst herrscht entspannte Arbeitsatmosphäre. Ein Redakteur, mit dem sich die Verlegerin das Zimmer teilt, sitzt in eine Decke eingewickelt am Schreibtisch und tippt in seinen Laptop. Es sieht aus wie in einer WG-Küche. Tee und Kaffee stehen im Regal neben einem Wasserkocher. Es herrscht konzentrierte Fülle auf dem Schreibtisch.

Das Selbstwertgefühl sei wichtig beim Verlegen, erklärt Nikola Richter später auf einem Spaziergang am nahe gelegenen Kanal. Man müsse überzeugt davon sein, dass man zeitlose, gute Titel im Programm habe. Bücher, die es sich lohnt zu lesen. Wie beispielsweise „Die ganze Geschichte» von Abou Saeed, der als Facebook-Literat syrischen und deutschen Alltag beschreibt und heute in Berlin lebt. Oder Rasha Abbas Kurzgeschichten „Eine Zusammenfassung von allem, was war». Im Februar wurde die Kurzgeschichtensammlung, in der es um die Suche nach Identität und Halt geht, am Gorki-Theater inszeniert.

Verleger*innen tragen große Verantwortung. Was wählen sie aus, was landet irgendwann auf dem (digitalen) Verkaufstisch und was verschwindet in den Schubladen? Welches Buch schafft es vielleicht bis auf die Bühne oder ins Fernsehen? Intuitiv treffe sie die Entscheidungen, und das Programm erschließe sich dann im Prinzip rückwirkend, erklärt die Verlegerin von mikrotext.

Richter denkt und spricht schnell. Sie läuft zügig, beobachtet genau, was um sie herum vorgeht. Ideen sprudeln aus ihr heraus, als gäbe es da irgendwo eine nicht versiegende Quelle. Ihre verlegten Texte verbinden neue Narrative sowohl inhaltlich als auch ästhetisch. Viele der Arbeiten seien oftmals im Internet entstanden, sagt sie. Das öffnete völlig unbekannten Autor*innen die Tür auf den Buchmarkt. Im Internet fallen häufig die klassischen „Gatekeeper» weg. Jede*r kann veröffentlichen, ohne durch Redaktion und Lektorat zu wandern oder von Agenturen vermittelt zu werden. Das hat Vor- und Nachteile, aber unbekannte Autor*innen werden so zumindest nicht sofort aussortiert. 

Bei mikrotext pflegt die 46-jährige Verlegerin gleichzeitig Kontakte, schaut sich auf dem aktuellen Autor*innenmarkt um, wählt aus und erledigt vom Vertrieb bis zur Pressearbeit alles selbst. Große Verlage arbeiten häufig mit vielen verschiedenen Abteilungen und mit Agenturen, die neue Autor*innen vorschlagen. Aber die Auswahl ist groß und der Konkurrenzdruck in Zeiten von Papiermangel und Inflation noch härter. Immer schwieriger sei es für Autor*innen abseits des Mainstreams und der bekannten Bestsellerlisten einen Verlag für sich zu finden, heißt es auch in Verlagskreisen hinter vorgehaltener Hand.

Wirklich Neues trauen sich aktuell die wenigsten Häuser. Das momentan weltweit größte Verlagshaus ist Penguin Random House und inzwischen für ein Viertel aller Buchpublikationen verantwortlich. Seit der Fusion und Übernahme von Marktanteilen der Verlags- und Mediengruppe Pearson im Jahr 2020 gehört Penguin Random nun mehrheitlich dem deutschen Medienkonzern Bertelsmann. Über 300 Einzelverlage tummeln sich jetzt weltweit unter dem Dach von Penguin Random House. Das sind völlig andere Größen als bei unabhängigen (Klein-)Verlagen.

Auch Yasemin Altınay hat 2019 mit ihrem Verlag Literarische Diverse politisch gedacht, als sie einen Raum für marginalisierte Stimmen schaffen wollte, die sonst in der breiten Masse des Literaturbetriebs eher untergehen. Im letzten Jahr kam zudem ein erster Lyrikband von Ọlaide Franke heraus, in dem es um die Realitätserfahrungen einer Schwarzen Frau geht.

Altınay war 2021 eine der Titelträger*innen der Auszeichnung Kultur- und Kreativpilot*innen. Trotz dieser Unterstützung stößt die Verlegerin immer wieder an strukturelle Grenzen, sagt sie. Verlagsauslieferer melden sich nicht immer zurück, und allein ist der Vertrieb fast nicht zu stemmen. Der Kampf gegen das etablierte System ist zehrend. Ihre Ein-Zimmer-Wohnung im Osten von Berlin soll ein Rückzugsort sein, war aber in den ersten zwei Jahren seit Verlagsgründung vor allem Redaktionsbüro und Lager gleichzeitig. Die Magazine stapelten sich im schmalen Buchregal neben dem Sofa, Bestellungen packte Altınay persönlich ein. Im Frühjahr 2022 ging das nicht mehr. Sie hat Lager und Versand an ein Familienunternehmen abgegeben. 

„Ich bin nicht an das Projekt gegangen mit dem Ziel, superbekannt zu werden und daraus Gewinn zu schöpfen», erklärt Altınay. Sie überlegt, lässt sich Zeit bei den Antworten und setzt dann nach: „Es ist mein One-Woman-Vorteil, dass ich keinen großen Verlag an der Backe habe.» Sie müsse ihre Ideen eben nicht erst mal mit 20 Abteilungen absprechen. „Ich bin flexibler und kann spontan entscheiden.» Wenn es also aktuelle Entwicklungen gibt, kann sie direkt darauf reagieren und das Thema der nächsten Magazin-Ausgabe entsprechend anpassen. So kam es zu dem Thema der dritten Ausgabe von Literarische Diverse mit dem Titel „Widerstand», weil im August 2020 einige Rechtsextreme und Querdenker versuchten, den Reichstag zu stürmen. Die Auflage mit 1500 Exemplaren ist ausverkauft.

2021 wurden knapp 64 000 Bücher in Deutschland verlegt, etwas weniger als im Jahr zuvor. Seit Mai dieses Jahres sinken die Absatzzahlen wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der damit verbundenen Lieferengpässe bei Holz, also auch Papier, und der steigenden Inflation. Aber die Verkaufszahlen des Internetbuchhandels wachsen seit der Pandemie stetig. Mehr und mehr Menschen kaufen digital. Für kleine, unabhängige Verlage sind der Verkauf über Online-Shops auf Webseiten und über die sozialen Medien sowie die großen und kleinen Buchmessen besonders wichtig.

„Mein Projekt wäre ohne Social Media wahrscheinlich nicht möglich, oder es hätte viel länger gedauert, mich zu etablieren. Auch finanziell wäre es viel aufwendiger», ist sich Altınay sicher. Am Anfang ist sie noch alleine durch die Stadt gezogen und hat Poster geklebt. Das aber hat sie schnell wieder verworfen. Zu groß war der Aufwand. 

Wie wichtig dennoch die großen Messen für Verlage und Autor*innen sind, zeigt die Aufregung, wenn die großen Buchmessen abgesagt werden. Denn diese sind der Ort der Vernetzung und der Werbung. Messen werden häufig von Stadt und Land gefördert. Durch die Pandemie verursachte Ausfälle wurden beispielsweise mithilfe eines Absicherungsprogramms von Bund und Ländern aufgefangen. Im Corona-Jahr 2021 gab es vier Millionen Euro aus dem Konjunkturprogramm Neustart Kultur.

Anfang Februar gab die Leipziger Buchmesse bekannt, dass sie „schweren Herzens» die diesjährige Messe wieder absagen müsse. Grund waren nach eigenen Angaben die vielen vorausgegangenen Stornierungen diverser Aussteller*innen, da es durch die Omikron-Variante des Coronavirus personelle Engpässe gebe. Die Pressesprecherin der Buchmesse Leipzig erklärte, dass es durch alle Bereiche hindurch Absagen gegeben habe, nicht nur große, sondern auch kleine Verlage hätten Abstand von einer Teilnahme genommen. Auffällig war dennoch, dass die Messe einen Tag nach der Stornierung der Holtzbrinck-Gruppe abgesagt wurde. Nikola Richter erklärte damals dazu, dass kleine Verlage und ihre Autor*innen bei diesen Großkonzepten häufig nicht mitgedacht würden. Kurzerhand organisierte sie einen digitalen Buchmesse-Empfang, den sie über ihren mikrotext-Instagramkanal bewarb.

Nicht nur die Verlegerin von mikrotext versuchte den Umständen entsprechend zu reagieren. Auch andere kleinere und größere unabhängige Verlage gaben nicht auf und schufen auf dem Werk-2-Gelände in Leipzig Ende März eine alternative Pop-up-Messe. Das einstige Industriegelände zwischen alten Backsteinmauern, heute ein Ort für Konzerte und Ausstellungen, war der perfekte Platz für ein Treffen aller Buchliebhaber*innen jenseits der typischen Großveranstaltungen. Es war auch ein Akt der Selbstermächtigung. Wie und ob die größer ausgerichtete Frankfurter Buchmesse Mitte Oktober stattfinden wird, bleibt abzuwarten. Dass sich Verleger*innen und Autor*innen auch sehr spontan allein organisieren könnten, hat die Szene im Frühjahr unter Beweis gestellt.

Am Ende geben die Leser*innen den Ausschlag. Die kleinen Buchhandlungen fernab der großen Buchhandelsketten leben von und mit den Vorschlägen und Nachfragen der Kundschaft. Häufig gibt es persönliche Beziehungen zwischen Händler*in, Käufer*in und Autor*in. Außerdem stehen private Buchhandlungen oft in engem Kontakt mit den Verlagen und können sich durch die Zusammenarbeit mit Kleinverlagen individuell ausrichten. Wo Ketten auf große Auswahl klassischer Genres wie Krimi, populäre Sachliteratur und Reisebücher setzen und noch dazu Bestsellerlisten abarbeiten, gibt es kaum Platz für vielfältigere Stimmen. Als Multiplikatoren sind die privaten Buchläden also auch für kleine, unabhängige Verlage nicht wegzudenken.

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