Christoph Hein: Oben der Himmel, unten der Mensch

Als die Müdigkeit den Mut ablöste: Christoph Heins großer DDR-Roman »Das Narrenschiff«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Der eingelagerte Marx, auch im Witz: »wir Deutschen sind die Erben von Karl Marx, die drüben haben Das Kapital bekommen, wir Das Elend der Philosophie«, sagt eine von Heins Figuren
Der eingelagerte Marx, auch im Witz: »wir Deutschen sind die Erben von Karl Marx, die drüben haben Das Kapital bekommen, wir Das Elend der Philosophie«, sagt eine von Heins Figuren

Irgendwann geschieht es: Der Mensch steht im Universum seiner Einsamkeit. Karsten Emser zum Beispiel. Er betrachtet die nächtlichen Meteorströme über Berlin, staunend, wie immer; den Blick fürs Astronomische hatte ihm sein Freund Gerhard geöffnet, damals, vor Jahrzehnten, im Moskau Stalins; ein Jahr später wurde der junge sowjetliebende Kommunist ausgeliefert, ans nazistische Deutschland, also an den Tod.

Emser sieht den Kosmos, dessen kalte schöne Ewigkeit – und er sieht auch sich selbst: ein Partikelchen aus kurzem flackernden Leben. Oben die hohen, an Wundern so überreichen Himmel und unten der Mensch, der Weltenwunder eines, und doch auch ein Scheusal. Blut an Händen und Wänden, und immer wieder, wenn die Leiber leiden, diese Phrasen der Beschwichtigung: Klassenkampf, Einsicht in die Notwendigkeit, Dialektik.

Geschichte? Was am Ende einzig zählt, ist die Steinbruchrechnung; gültige Urteile spricht lediglich das Scherbengericht. Auf zu neuen Ufern!, hatten die Kommunisten im Osten Deutschlands prophezeit, nach dem schlimmsten der Kriege. DDR hieß die Verheißung, aber irgendwann schwindet der Glaube, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Wo aber dann? »Vielleicht auf dem Deck eines Narrenschiffs …«, sagt Karsten Emser, Ökonom, Mitglied des Zentralkomitees.

In seinem Buch erzählt Christoph Hein weitverzweigte Familiengeschichten – Entwicklungsstadien der DDR, gespiegelt in einem fesselnden Biografien-Knäuel. Es entstand ein großartiges Panorama selbstverständlicher Verknüpfung von fiktiven Gestalten und dem realen politischen Personal des Staates, von Ulbricht über Honecker bis hin zu den letzten flatternden Protagonisten des gefluteten Staatsdampfers.

Das Moskau der Säuberungen, der Krieg, die Befreiung, der 17. Juni 1953, die kulturelle Kahlschlagpolitik der SED, der Mauerbau, der Prager Frühling, allwaltend die alltägliche Verödung; dann Gorbatschow, der Herbst 1989 und die Folgen zwischen neuem Aufbruch im Osten und neukolonialer westlicher Landnahme (»Begrüßungsgeld und arbeitslos« heißt eines der letzten Kapitel) – dies alles bildet den Hinter- oder Vordergrund einer spannend gefügten Galerie aus Schicksalen und Konflikten.

Familie Goretzka, Familie Emser oder auch Benaja Kuckuck, der schwule Literaturwissenschaftler, einst Westemigrant, abgeschoben zur Defa-Kinderfilm-Administration … Um sie herum: Kinder, Eltern, Freunde. Geliebte und Genossen. Dissidenten und Duckmäuser, Westverwandte und willige Hoffnungshüter. Eisenharte Funktionäre, verzweifelte Idealisten, burschikose Lebenskünstler, angestrengte Mitgänger und: schlaue Jongleure, wohin die politische Stimmung auch wechselt. Und sie wechselt in diesem kargen Kollektiv-Osten immer weniger ins Gute. »Denn, wie es ein Witz sehr richtig sagt«, so Benaja Kuckuck, »wir Deutschen sind die Erben von Karl Marx, die drüben haben Das Kapital bekommen, wir Das Elend der Philosophie

Hein beschreibt die kleinen, großen Zusammenstöße zwischen Karrieretrieb und Anständigkeit, zwischen Überzeugung und Hörigkeit. Dieser Roman sieht dich an, ein fester Blick: Lies und weich dir selber nicht aus! Du weißt doch auch, wie das war und wann das war: als du zu gefügig, zu unfähig, zu träge warst oder gar zu feige, dich ganz anders umzusehen im Land, und so hast auch du dich mit Angeboten eines lukrativen Gehorsams umsorgt. Nahmst die Zweifel am System mit in ein paar durchwachte Nächte, in einige Bier- oder Weinabende (wie die Emsers), in familiäre Auseinandersetzungen, aber nie stieg in dir die Bereitschaft auf zur erschütternden Wahrnehmung. Als gehöre es zur Erfüllung des Lebensauftrags, zerbrochen zu werden. Durchhalten bis zur Demenz oder zu anderer Versteinerung.

Dieser Zwangsenthusiasmus. Diese böse Neigung zum kurzen Prozess. Diese Sühne, auch wenn keine Schuld vorlag. Mählich geschieht, dass Menschen zerrieben werden. Eben noch Gutgläubige, Neugierige, Wissensfrohe, Weltfreudige. Für eine Sache leben? Daraus folgt nicht nur Selbstverlust, sondern auch Gefährdung und Züchtigung anderer Menschen. Die nicht ans Reißbrett einer Theorie genagelt werden wollen. Und plötzlich bist du entsetzt: hast dich schmutzig gemacht just an der reinen Lehre.

Porträtiert wird ein drahtumwickeltes Land. In dem die Müdigkeit den Mut ablöste. Auf blättert sich ein Panorama frechen, forschen, fortwehenden, feinsinnigen, frustrierten, festgewurzelten, ferngesteuerten Lebens. Die Erschöpfung als größter Titan nach den Aufbrüchen des Beginns. Aber auch nach dem Ende, auch nach Wut und Wende 1989, bleibt die alte Ungewissheit aller Geschichte: Man weiß nie, wer unglücklicher ist – jener, der schweißkalt in einer Laufbahn steckt, oder jener, der in der Freiheit erfriert.

Hein spielt mit der Wirklichkeit, bis die ein Geständnis ablegt: Ja, so bin ich. Er macht aus Realität nichts, was nicht aus ihr selbst entstünde. Er bietet Geschichtsschreibung mit Sinn für unmerklich sich entfaltende Gegensätze, für Steigerungen, mit Sinn auch für die Verzögerungen, in denen die Dinge den Atem anzuhalten scheinen, ehe sie doch aufeinanderprallen.

Das Buch ist traurig, naturgemäß. Aber nicht zynisch in den Absagen, nicht sentimental in der Traum-Treue. Es wird nicht psychologisiert, nicht kommentiert, sondern nur erzählt, hauptsächlich diskutiert. In den Dialogen ist das Privateste sofort auch das Politische; was sperrig anmutet, ist der Kern des Sogs: Hier spielt sich ein Ideendrama ab, das die Menschen bis zum Grunde aufreißt. Hein ist Chronist, Protokollant, aber in einer Sachlichkeit, die bannt.

Die Abfolge der politischen Ereignisse von 40 Jahren DDR: durchgehend eine informative Akribie. Da ist etwa die Forderung Ulbrichts, nach 1945 auch Pommern und Schlesien dem neuen ostdeutschen Staatsgebiet zuzuschlagen, ein Wille, der an Moskau scheitert. Oder da ist die Absetzung des Sekretariatsleiters Honecker durch Ulbricht und die Wiedereinsetzung nach wenigen Tagen: Auftakt eines so würde- wie herzlosen Machtkampfes im SED-Zentrum.

Hein umkreist Kräfteverhältnisse sorgsam, umsichtig kühl, mit intelligenter Vorsicht und Besonnenheit. Am Anfang steht ein rührendes Foto: der gütige Präsident des jungen Landes in der Aula einer Schule, neben ihm die kleine Kathinka, eine der Hauptgestalten des Romans. Jahrzehnte später schaut sie sich das Foto an, und eine ganze Epoche ist erzählt in einer einzigen Frage: Wird das Foto zurückgelegt in die Schublade oder wird es zerrissen?

Der Roman sieht sich um in zerbrechenden Schutzräumen: Es gibt keinen einzigen Menschen, der durch Machtbesitz oder Ideenmagie nicht irgendwo auf seiner Seele Totenflecke bekäme. So sah Hein die DDR. So ist die Welt.

Christoph Hein: Das Narrenschiff. Suhrkamp, 751 S., geb., 28 €.

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