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Scharfe Polarisierung
In Brasiliens Megametropole São Paulo bietet einmal mehr Guilherme Boulos der Rechten die Stirn
Seit der Rückkehr Brasiliens zur Demokratie 1988, als das Land 21 Jahre blutige zivil-militärische Diktatur hinter sich ließ, ist kein amtierender Präsident der Republik nicht wiedergewählt worden. Das könnte sich dieses Mal ändern. Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT hat sogar Chancen, Jair Bolsonaro bereits im ersten Durchgang an diesem Sonntag mit einer absoluten Mehrheit das Amt abzunehmen.
Einen besonderen Einschnitt für die brasilianische Politik stellte der 11. März 2020 dar. An diesem Tag teilte die Weltgesundheitsorganisation offiziell mit, dass die Welt mit der Covid-Pandemie konfrontiert ist. Bolsonaro reagierte darauf mit einer Erklärung, in der er behauptete, das Coronavirus sei »eine Erfindung der Medien«. Seine unverantwortliche Politik und unzählige Äußerungen dieses Kalibers haben wesentlich dazu beigetragen, dass seine Kampagne für eine zweite Amtszeit im Präsidentschaftspalast Palácio do Planalto in Brasília heute auf wackligen Beinen steht. Hinzu kommt, dass der ehemalige Hauptmann, der 27 Jahre lang von den Hinterbänken des Abgeordnetenhauses gehetzt und sich dann als Anti-Politiker verkauft hatte, mitsamt seiner Familie in eine Reihe von Korruptionsskandalen verstrickt ist.
In Brasiliens Präsidialsystem, das angesichts des Mehrheitswahlrechts Ähnlichkeiten zu einem Zweiparteiensystem aufweist, stehen sich bei den diesjährigen Wahlen zwei antagonistische politische Projekte gegenüber. Gewählt werden nicht nur der Präsident und dessen Vize, entschieden wird auch über die 27 Gouverneure der Bundestaaten, über ein Drittel des Senats und die Zusammensetzung der 513 Sitze zählenden Abgeordnetenkammer. Hier werden Bolsonaros extreme Rechte ebenso weiter eine bedeutende Rolle spielen wie das »große Zentrum«, dessen Parlamentarier sich im Allgemeinen wenig nach Ideologien richten, sondern nach Lobbyinteressen und dem eigenen Vorteil.
Dass dem Ex-Präsidenten Lula eine Rückkehr an die Macht gelingen könnte, führt die Politikwissenschaftlerin Camila Rocha von der Universität São Paulo, die zum Thema Bolsonarismus und die brasilianische Rechte forscht, nicht auf die Hinwendung der Wähler zu linken Ideen zurück. Rocha sieht zwei Hauptgründe für eine solche Wahlentscheidung – »erstens die Ablehnung von Bolsonaro wegen seines Umgangs mit der Pandemie, zweitens als Reaktion auf die wirtschaftliche Misere«. Bei der Zahl der Covid-Toten lagen weltweit nur die USA vor Brasilien, wo bislang 886 000 Fälle gezählt wurden.
»Bolsonaro ist ein mörderischer Präsident, der sich während der Pandemie aktiv gegen Impfungen eingesetzt hat und direkt für den Tod von fast 700 000 Brasilianern an Covid-19 verantwortlich ist«, betont Guilherme Boulos von der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL). Boulos ist einer der Anführer der großen Wohnungslosenbewegung MTST (Movimento dos Trabalhadores Sem Teto). Vor vier Jahren stand Boulos mit der Vertreterin der Indigenen Sônia Guajajara als Vize selbst auf dem Stimmzettel zur Präsidentschaftswahl. Der Vorschlag erhielt nur 0,6 Prozent der Stimmen, und für die Stichwahl riefen Boulos und Guajajara damals zur Stimmabgabe für den Kandidaten der Arbeiterpartei PT Fernando Haddad auf, der Bolsonaro unterlag.
2020 bewarb Boulos sich um das Bürgermeisteramt der Metropole São Paulo, die zusammen mit ihrem Industriegürtel das größte Wirtschafts- und Finanzzentrum Lateinamerikas darstellt. Der PSOL-Politiker trat für eine »antirassistische Stadt« ein, wollte für bezahlbaren Wohnraum, einen starken öffentlichen Dienst und einen kostengünstigen Nahverkehr sorgen. Erst in der Stichwahl unterlag er damals Bruno Covas von der bürgerlichen PSDB.
In diesem Jahr bewirbt er sich als Kandidat seiner Partei um einen Abgeordnetensitz für den Bundesstaat São Paulo im Nationalparlament. Die PSOL ist Teil der Wahlallianz, die sich hinter der Präsidentschaftskandidatur von Lula versammelt hat. Boulos warnt vor einer Rückkehr zur Diktatur und will dazu beitragen, »dass Brasilien wieder lächelt und Bolsonaro wieder auf dem Müllhaufen der Geschichte landet«, ließ er in einer Botschaft kurz vor der Wahl wissen. Politische Analysten gehen davon aus, dass Boulos das Mandat als mit den meisten Stimmen gewählter Abgeordneter landesweit holt. Diesen Rekord hält derzeit Präsidentensohn Eduardo Bolsonaro, der 2018 auf der Welle surfte, die seinen Vater ins Präsidentenamt brachte, und 1,84 Millionen Stimmen erhielt.
Die Vorwürfe des MTST-Führers stützen sich auf die Ergebnisse eines vom Nationalkongress am 27. April 2021 eingesetzten Untersuchungsausschusses, der das Missmanagement der Regierung während der Pandemie untersuchte und ihr ein verheerendes Zeugnis ausstellte. Die Parlamentarier stellten fest, dass sich die Bolsonaro-Regierung elf Mal geweigert hatte, Covid-19-Impfstoffe zu kaufen. Gesundheitsexperten schätzten ein, dass viele der Todesfälle hätten verhindert werden können.
»Wir haben Mütter, Großmütter und Großväter verloren. Wir haben viele Menschen verloren, die die Stützen ihrer Familien waren«, beklagt Cleide Alves. Sie ist die Präsidentin von UNAS, einer Vereinigung von Basisgruppen der Bewohner von Heliópolis im Stadtteil Sacomã von São Paulo. Nach Rocinha in Rio de Janeiro gilt sie als die zweitgrößte Favela in ganz Lateinamerika.
Hier im Süden der Stadt São Paulo leben etwa 220 000 Menschen. Mittlerweile hat sich die Favela zu einem städtischen Gebiet mit Schulen, Freizeiteinrichtungen und öffentlichen Krankenhäusern entwickelt. Besiedelt wurde sie in den späten 1970er Jahren vorwiegend durch Binnenmigranten aus dem wirtschaftlich schwach entwickelten Nordosten Brasiliens. Nach wie vor ist die Bevölkerung von Heliópolis überproportional von Armut betroffen.
Die Wunden, die Brasilien in den vergangenen vier Jahren geschlagen wurden, zeigen sich hier besonders deutlich. Angesichts der Pandemie und der Auswirkungen der katastrophalen Wirtschaftspolitik unter Bolsonaro verteilte die Vereinigung von Cleide Alves mehr als 60 000 Pakete mit Grundnahrungsmitteln an bedürftige Bewohner. Viele hier haben in dieser Zeit Jobs und Einkommen verloren.
Auch im großen Maßstab ist das Bild düster. Mehr als 10 Millionen Menschen in Brasilien sind heute offiziell arbeitslos, die Zahl der Hungernden wird auf rund 33 Millionen geschätzt. Und für mehr als die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung, etwa 125 Millionen Menschen, ist nicht sichergestellt, dass sie sich jeden Tag ausreichend ernähren können.
Es sind diese Bevölkerungsgruppe, deren Einkommen einem bis fünf staatlichen Mindestlöhnen entspricht (der Mindestlohn liegt aktuell umgerechnet bei 230 Euro), und die Empfänger von Sozialleistungen, die einen großen Anteil der Stimmen für den ehemaligen Präsidenten Lula beisteuern werden. Lula, in dessen Amtszeit in den Jahren 2003 bis 2010 rund 36 Millionen Menschen aus der extremen Armut erlöst wurden, verkündet schließlich, »dass jeder wieder ein Stück Fleisch auf den Teller bekommt – und am Wochenende ein Bier dazu«. In seinem Wahlprogramm verspricht er die Wiederaufnahme von Sozialprogrammen und die Bekämpfung der Inflation. Auch die Besteuerung großer Vermögen und eine Regulierung des Medienoligopols stehen zur Debatte.
Die größte Herausforderung wird darin bestehen, mit einem voraussichtlich weiter konservativ dominierten Nationalkongress zu regieren, der die progressive Agenda an allen Ecken zu behindern versuchen wird. Politikwissenschaftlerin Camila Rocha schätzt ein, dass die Zusammensetzung des Parlaments keine großen Veränderungen erfahren wird, insbesondere im Vergleich zum Stühlerücken 2018. Damals erlebte der Kongress seinen größten Umbruch seit drei Jahrzehnten. Die Liberale Partei (PL) von Bolsonaro »hat gute Aussichten, dass die meisten ihrer ultrakonservativ oder rechtsextrem gerichteten Kongressabgeordneten wiedergewählt werden«, schätzt Rocha ein.
Auch PSOL-Politiker Guilherme Boulos ist alarmiert. Es sei notwendig, »den größten linken Parlamentsblock in unserer Geschichte zu haben, damit Lula effektiv regieren und Brasilien nach vier Jahren Zerstörungswerk der Bolsonaristen wieder in Ordnung bringen kann«. Das sei keine leichte Aufgabe. »Nur wenn wir mindestens ein Drittel der Sitze in der Deputiertenkammer erhalten, werden wir stark genug sein, um Versuche einer Amtsenthebung zu blockieren und fortschrittliche Projekte der Regierung im Kongress durchzusetzen.«
Boulus setzt die Latte nicht von ungefähr so hoch: 2016 hatte der von einer konservativen Zweidrittelmehrheit beherrschte Kongress Lulas Nachfolgerin und Parteifreundin Dilma Rousseff zwei Jahre nach ihrer Wiederwahl als Präsidentin mit politisch motivierten Anklagen per Impeachment aus dem Amt gehoben. Die damals behaupteten Haushaltsunregelmäßigkeiten sind mittlerweile amtlich widerlegt.
Auch Lula kennt die Untiefen der brasilianischen Politik und die Manöver der Rechten genau. Im April 2018 war er wegen angeblicher Korruption im Polizeigefängnis von Curitiba gelandet, von der Wahl als Kandidat ausgeschlossen worden und erst nach einer Entscheidung des Obersten Gerichts nach 580 Tagen wieder in Freiheit gelangt. Sergio Moro, der Richter, der den Prozess manipuliert hatte und zwischenzeitlich unter Bolsonaro als Justizminister wirkte, kandidiert jetzt im Bundesstaat Paraná für den Senat. Ein Wahlsieg Lulas wäre ein wesentlicher, aber nur der erste Schritt zum dringenden und schweren Neuanfang Brasiliens.
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