- Wirtschaft und Umwelt
- Proteste in Großbritannien
Die Streikwelle rollt weiter
Erster koordinierter Aktionstag gegen den Anstieg der Lebenshaltungskosten in Großbritannien
Am 1. Oktober brannten in Großbritannien die Energierechnungen. In der Fußgängerzone in Catford, einem Quartier im Süden Londons, versammelten sich etwa 30 Protestierende; sie riefen im Chor: »Can’t pay, won’t pay!« – Wir können nicht bezahlen und wir werden nicht bezahlen. Um zu demonstrieren, dass dies keine leere Drohung ist, machten sie in einem kleinen Metallständer ein Feuer und warfen dann ihre Strom- und Gasrechnungen in die Flammen. Der Wind war an diesem Samstag stark – um das Feuer zu schützen, stellte ein Mann ein Schild davor, auf dem stand: »Don’t Pay. Together we strike, together we win.«
Rund 30 solcher Proteste fanden am Samstag im ganzen Land statt. Die Kampagne »Don’t Pay UK« hat sich zum Ziel gesetzt, eine Million Unterstützer zu mobilisieren, um dann gemeinsam die Bezahlung der Energierechnungen einzustellen – aus Protest gegen die exorbitanten Kosten von Strom und Gas. Fast 200 000 Briten haben sich der Initiative bereits angeschlossen. Es ist eine der prominentesten Kampagnen gegen die Krise bei den Lebenshaltungskosten in Großbritannien – aber bei Weitem nicht die einzige.
Vor allem die Arbeiterbewegung ist in der Offensive. Im Frühsommer begann die größte Streikwelle seit Jahrzehnten, die seither ungebrochen weiterrollt. In unzähligen Sektoren haben die Leute in den vergangenen Monaten die Arbeit niedergelegt, um inmitten der ungezügelten Inflation angemessene Lohnerhöhungen zu erkämpfen. Die Transportgewerkschaft RMT zum Beispiel hat das landesweite Bahnnetz seit Juni bereits an sieben Tagen lahmgelegt; rund 40 000 Gewerkschafter*innen nahmen jeweils an den Ausständen teil. Die knapp 2000 Hafenarbeiter von Felixstowe, dem größten Containerhafen in Großbritannien, über den die Hälfte aller Waren ins Land kommt, streikten im August eine Woche lang. Es war dort der erste Streik seit 30 Jahren. Ende September taten es ihnen die Docker von Liverpool gleich, sie haben soeben einen zweiwöchigen Streik beendet – und gleich den nächsten für Mitte Oktober angekündigt.
Auch die 100 000 Postbeamten von Royal Mail sind zum ersten Mal seit 13 Jahren in den Ausstand getreten. Dazu kommen Streiks von Müllarbeitern, Uni-Lektoren, Strafverteidigern und Callcenter-Angestellten. Bald könnten sich auch Hebammen, Zivilbeamte, Krankenpfleger und Feuerwehrleute der wachsenden Bewegung anschließen: Ihre Gewerkschaften haben bereits Streikabstimmungen gestartet.
Ferner koordinieren sich Arbeiter und soziale Bewegungen zunehmend, um eine größere Schlagkraft zu erzielen. Zu diesem Zweck wurde im August die Kampagne »Enough is Enough« (»Genug ist genug«) gegründet. Zu den Initiatoren gehören einige Gewerkschaften, mehrere Kampagnen sowie eine Reihe von linken Labour-Abgeordneten. Sie fordern unter anderem eine Begrenzung der Energiepreise, angemessene Behausung für alle und eine stärkere Besteuerung der Reichen.
Im ganzen Land haben sie seither Kundgebungen abgehalten, von Bristol bis nach Glasgow. Überall ging es hoch her. Samstag war der erste Aktionstag, den »Enough is Enough« ausgerufen hat – es war der größte koordinierte Protest in Großbritannien seit vielen Jahren. In Dutzenden Städten gingen die Leute auf die Straße, und in London versammelten sich mehrere Tausend Leute zu einer Demo vor dem Bahnhof King’s Cross. Gleichzeitig stand der Zugverkehr erneut still: Die RMT streikte wieder, ebenso die Postbeamten von der Gewerkschaft CWU. Insgesamt waren an dem Tag rund 200 000 Gewerkschafter im Streik. Am nächsten Samstag wird es weitergehen, dann folgt der nächste Ausstand der Bahnarbeiter von der RMT, zudem streiken am Mittwoch die Zugführer.
Auch die Kampagne »Don’t Pay« beteiligte sich am Aktionstag am 1. Oktober – genau an diesem Tag wurden die Energierechnungen schlagartig von durchschnittlich 1971 Pfund pro Jahr auf 2500 Pfund angehoben. Beth Williams, die den Protest in Catford mitorganisiert hat, spürt eine Entschlossenheit, die man in Großbritannien schon lange nicht mehr gesehen hat. »Es fühlt sich an wie ein Wendepunkt«, sagte die 32-Jährige.
Williams ist Sekundarlehrerin. In den vergangenen Jahren musste sie erleben, dass sie sich mit ihrem Lohn immer weniger leisten konnte. In diesem Jahr ist dann noch die exorbitante Inflation hinzugekommen, und schließlich die himmelhohen Rechnungen für Strom und Gas – es ist einfach zu viel. Bereits jetzt habe sie aufgehört, bestimmte Produkte zu kaufen. »Wenn ich die Energierechnung noch bezahlen müsste, könnte ich zudem kaum mehr zu meiner Familie in Manchester zu Besuch fahren.« Wenn sich ihrer Kampagne eine Million Leute angeschlossen haben werden, kündigte sie an, werde sie nicht mehr bezahlen.
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